City of Snakes – Wieso stehen in Berlin eigentlich alle Schlange?

© Wiebke Jann

Zwei Momentaufnahmen vor dem Berghain. 2010er Jahre, November, mitten in der Nacht. Ein junger Student steht mit seinen Freunden in der Schlange. Nachdem sie eineinhalb Stunden gewartet haben, kommt die eine Hälfte rein, der junge Student gehört zur anderen Hälfte. Viele Jahre später, Mai, sonniger Sonntagnachmittag. Der inzwischen mitteljunge Redakteur spaziert ebenda mit seiner Freundin an einer viele Meter langen Schlange vorbei, schaut, grinst, schüttelt den Kopf und die beiden verschwinden Richtung Dämmerung. Der mitteljunge Redakteur hat inzwischen verstanden, dass er sich nicht an jede Schlange stellen muss. Was er niemals verstehen wird, ist, warum der Rest von Berlin das trotzdem so gerne macht.

Warum steht gefühlt die ganze Metropole gerne Schlange, wenn doch wirklich genügend Alternativen da wären? Die Hauptstadt Deutschlands ist in vielerlei Hinsicht ein überkochender Schmelztiegel. Der Kulturen, der Gesinnungen und der Menschen. Hier kommt alles zusammen und davon viel, manche würden sagen: zu viel. So oder so, das Angebot ist in jederlei Hinsicht reichlich. Klar, es gibt bei Mugrabi ausgezeichnetes Hamshuka, selbst gemachtes Brot und frische Mimosas. Aber wollt ihr mir wirklich erzählen, dass es ausgerechnet in Berlin nicht zwei Häuser weiter auch guten Hummus, Fladenbrot und O-Saft gibt? Dass nicht irgendwo ein alter Bunker mit dunklen Räumen und bunten Teilchen aufwartet? Ganz genau, ich auch nicht.

Keine Pizza dieser Welt ist dieses Prozedere wert.

Natürlich mag mein Realitätsausschnitt verzerrt sein, durch meinen Job bei diesem Magazin gehe ich ja nicht mehr nur zum Pizzabäcker an der Ecke. Ich gehe jetzt zu Gazzo. Und stehe dann dort, um es mit den zynischen Worten eines geschätzten Kollegen zu sagen, „mit den anderen 11 Typen irgendwas-chic-diesdas in der Schlange“. Wohlgemerkt nicht, um Pizza zu essen, sondern, um meine Nummer zu hinterlassen. Damit mir in einer Stunde eine SMS sagt, dass es jetzt Zeit für meinen Hunger wäre. Wenn ich ehrlich bin, ist keine Pizza dieser Welt dieses Prozedere wert. Und wenn ich noch ehrlicher bin, ist eigentlich gar nichts auf der Welt diese ständige Warterei wert.

© Charlott Tornow

Dass ich so viel angestanden bin wie in Berlin, war wahrscheinlich zuletzt mit zehn Jahren im Wasservergnügungspark der Fall. Und am allerehrlichsten: Schon damals war es die Rutsche nicht wert. Aber sobald man ins kühle Nass geschleudert wurde, war jeder Gedanke daran wie weggewaschen. Badehose zurecht rücken und ab zurück in die Schlange. Nur, Berlin besteht ja nicht nur aus Kindern – ohne Zeitgefühl, ohne eine Sorge in der Welt und ohne ein gewachsenes Verständnis für die mikro-geographische Vielfalt neapolitanischer Pizza. Warum also stehen Berliner*innen ständig in Schlangen?

Nonchalant würde ich ja vermuten, dass das Berliner Volk einfach nichts Besseres zu tun hat. Aber so einfach ist es nicht, Berlin arbeitet bisweilen auch ganz schön hart. Trotzdem habe ich das Gefühl, mehr als in Berlin wird nur in New York angestanden. Dort wie hier kann man häufig nicht reservieren. Als ich dagegen vor Kurzem in Barcelona einfach so in ein todes-hippes Lokal laufen wollte, hat mich die Bedienung ganz entgeistert angeschaut. "Sie haben nicht reserviert?!", kann ich jetzt auch auf Spanisch. Dass Sitzplätze in Berlin oft sozialistisches Allgemeingut sind, erklärt also das "Wie?" des Schlangestehens, nicht aber das "Warum?".

Wer sich die Stadt mit 3,7 Millionen anderen teilt, der*die ist Menschenmassen gewöhnt – und hat sich damit abgefunden.

Daher meine neueste Theorie, es liegt an einer Mischung aus Herdendenken und Gewohnheit. Wer seinen Pass nicht mehr erneuert, weil Termine beim Amt rarer sind als ein Sechser im Lotto, wer überfüllte U-Bahnen mit einem Achselzucken hinnimmt, wer bei Wohnungsbesichtigungen mit 200 Leuten durch die Immobilie trabt, sprich, wer sich die Stadt mit 3,7 Millionen anderen teilt, der*die ist Menschenmassen gewöhnt – und hat sich damit abgefunden.

Schuld sind Herdendenken und Gewohnheit

Das Herdendenken könnte man auch den Urlaubsfaktor nennen. Wenn ich beim Reisen nach guten Läden Ausschau halte, suche ich immer die Etablissements mit den meisten Menschen davor. Ein idiotensicheres System, das in Berlin wohl auch Anwendung findet. Eben bei besagter kulinarischer und kultureller Vielfalt sehen wir uns ja mal wieder mit der Qual der Wahl konfrontiert. Wo sollen wir hin, wenn es in einer Straße drei gute Hummus-Läden und vier gute Clubs gibt? Genau, dahin, wo unsere Mitmenschen auch hinwollen.

© Wiebke Jann

Ist ja auch nicht verkehrt, dafür ist das Berghain einfach zu aufregend, die Sonne vor dem Mugrabi zu schmeichelnd und die Pizza bei Gazzo zu gut. Dort behelfe ich mir übrigens, indem ich den Aperitivo wörtlich nehme, zum Warten einfach nebenan in die Bar Brutal gehe und die SMS als freundlichen Weckservice sehe: „Lieber Dominik, zwei Negroni vor dem Essen sind wirklich genug, hol dir jetzt mal eine leckere Pizza!“

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