Bitte bleib' auf keinen Fall, wie du bist
Es ist der Klassiker unter den Geburtstagskartensprüchen: "Bleib, wie du bist." Das ultimative Kompliment. Selbst schon hundert Mal geschrieben, vielleicht nicht ganz so oft gelesen. Soweit ich mich erinnere, habe ich diesen Wunsch immer ernst gemeint, so ernst, wie man Floskeln eben meinen kann. Aber als ich dieses Jahr zu meinem eigenen Geburtstag dazu aufgefordert wurde, so zu bleiben, wie ich bin, dachte ich nur: Na hoffentlich nicht!
Ich bin 30 – und damit das finale Ich?
Mit 30 Jahren ist die Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen – so liest man immer wieder. Der Charakter verändert sich dann nicht mehr und man tut endlich das, was die Geburtstagskarten befehlen: Man bleibt, wie man ist. Ich überlege. Wenn das stimmt, dann ist mein Freund noch derselbe Mensch, der mich vor neun Jahren im Club angequatscht hat. Dann ist meine Mama noch dieselbe Person, die mit mir vor 30 Jahren ihr erstes Kind bekam. Und dann bin ich eines Tages als schrullige Katzen-Oma immer noch genau die, die ich heute bin. Ich glaube nicht, dass das funktioniert.
Also recherchiere ich und stelle schnell fest: Nicht nur die Menschen unter 30 haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, sondern auch die Persönlichkeitspsychologie. Studien belegen längst, dass sich der Charakter eines Menschen ein Leben lang verändern kann. Tatsächlich gilt das hohe Veränderungspotenzial unserer Psyche als ein möglicher Grund, warum wir es evolutionär so weit gebracht haben.
Die automatisierte Selbstoptimierung
Ich glaube nicht nur, dass niemand (außer vielleicht Michelle Obama) für immer so bleiben sollte, wie er oder sie ist. Ich glaube auch, dass das gar nicht möglich ist. Die Wissenschaft gibt mir recht. Sie misst unsere Persönlichkeitsentwicklung an fünf Merkmalen: Geselligkeit, Verlässlichkeit, emotionale Stabilität, Extraversion und Offenheit für Erfahrungen. Bei "emotionaler Stabilität" muss ich kurz lachen – da ist bei mir definitiv noch Luft nach oben. "Extraversion" muss ich erst mal googeln. So viel dazu.
Die meisten Menschen werden im Alter milder, also umgänglicher und vor allem zuverlässiger. Das passiert automatisch, ganz ohne Selbstoptimierungsprogramm. Die Bereitschaft für neue Erfahrungen hingegen nimmt statistisch gesehen ab 40 Jahren ab. Aber auch das ist nicht endgültig. Wer sich regelmäßig neuen Herausforderungen stellt, kann auch im Alter ein*e Abenteurer*in bleiben.
Ich möchte nicht so bleiben, wie ich bin.
Ich finde das alles recht tröstlich und vor allem logisch. Im Laufe eines Lebens sammeln wir derart viele Eindrücke, Erfahrungen, Bekanntschaften, Emotionen – wie könnten wir daran nicht wachsen? Ich möchte nicht so bleiben, wie ich jetzt bin. Im Gegenteil, erst heute habe ich nach einer Sprachreise nach New York recherchiert, um mich mit meinen 30 Jahren noch mal so richtig schön ins kalte Wasser zu werfen. Warum? Weil ich selbstsicherer werden möchte und mir der Schritt aus der Komfortzone ein guter Anfang dafür zu sein scheint.
Ich werde auf keine Geburtstagskarte mehr "Bleib so, wie du bist" schreiben. Stillstand tut niemandem gut, auch den besten Freund*innen der Welt nicht. Außerdem sind die meisten von ihnen schrecklich unpünktlich. In Zukunft schreibe ich lieber, dass ich mich darauf freue, den gemeinsamen Weg weiter zu gehen, egal wohin er führt. Und dass ich hoffe, dass wir auch dann noch befreundet sind, wenn wir alt und schrullig, aber dafür wahnsinnig zuverlässig sind.