Literarischer Jahresrückblick: Diese Bücher solltet ihr 2022 gelesen haben

© Ebert und Weber

Spätestens ab der zweiten Hälfte des Dezembers wird einem der Nachrichten-Feed nicht mehr nur von schlechten Nachrichten und Anzeigen für Weihnachtsgeschenke vollgespült, sondern auch mit Jahresrückblicken zu wirklich allem. Das Jahr in 52 T-Shirts gibt's von der SZ, die peinlichsten Berliner*innen des Jahres vom tip und von ungefähr jedem Medium gibt es das Jahr in großen Bildern und Videos. Weil in der Welt ohnehin genug los ist und wir uns ehrlicherweise auch nicht unbedingt immer an das Geschehen aller 52 Kalenderwochen erinnern wollen, liefern wir euch einen literarischen Jahresrückblick in 11 Büchern. Bücher, die uns sehr gut unterhalten, die uns vom Weltgeschehen abgelenkt oder über selbiges aufgeklärt und zum Nachdenken gebracht haben.

© Orion Verlag

1
Candice Carty-Williams: "People Person"

Eines der besten Bücher, die wir in den letzten Jahren gelesen haben, war definitiv das Erstlingswerk von Candice Carty-Williams "Queenie". Rund zwei Jahre später liefert die 33-Jährige aus South London ihren neuen Roman "People Person" ab, der uns nicht minder begeistert. Cyrill Pennigton wird von den Leuten geliebt. Er ist witzig, extrovertiert und gerne unter Leuten. Vater ist er allerdings nicht so gerne. Doch das ist ein Problem, bedenkt man, dass er fünf Kinder von vier verschiedenen Frauen in die Welt gesetzt hat. Sie wachsen ohne ihren Vater auf und kennen einander nur flüchtig. Bis ein Schicksalsschlag die Halbgeschwister einander näherbringt. Ein schönes, zeitgemäßes und humorvolles Familienportrait.

© Ullstein Verlag

2
Lisa Jaspers, Naomi Ryland, Silvie Horch (Hrsg.): "Unlearn Patriarchy"

Obwohl die meisten von uns sich als bekennende Feminist*innen bezeichnen, ist es im Alltag gerade für Frauen* noch immer schwierig, sich aus patriarchalen Strukturen zu befreien. Der Sammelband "Unlearn Patriarchy" fragt, warum das so ist. Wieso folgen wir veralteten Vorstellungen von der glücklichen Kleinfamilie und traditionellen Rollenbildern? Warum passen wir uns im Job einer kapitalistischen Welt an, die von Männern gemacht wurde? Und weshalb schließen wir Frauen* durch unsere Sprache aus? In 16 Kapiteln kommen in diesem Essayband wunderbare und diverse Autor*innen wie Kübra Gümüşay, Laura Gehlhaar oder Linus Giese zu Wort, die mit jeweils unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Perspektiven neue Wege und Visionen aufzeigen wollen, wie wir gemeinsamen das Patriarchat unlearnen, also verlernen können. Eine Aufforderung an uns alle, sich mit seinen eigenen "blind spots" auseinanderzusetzen, um mehr Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu erlangen!

© KiWi Verlag

3
Nick Cave, Sean O'Hagan: "Glaube, Hoffnung und Gemetzel"

Nick Cave darf man zweifelsfrei als einen der letzten echten Rockstars bezeichnen. Wenn man dem Ausspruch Glauben schenken mag, dass brillante Künstler*innen sehr viel Leid ertragen haben, dann ist Nick Cave mit dem schmerzlichen Verlust seiner beiden Söhne der lebende Beweis dafür. In über 40 Stunden Gespräch bearbeiten Nick Cave und Journalist Sean O’Hagan in "Glaube, Hoffnung und Gemetzel" die ganz großen Themen: Hoffnung, Kunst, Musik, Freiheit, Trauer und Liebe. Sie wandeln gemeinsam auf den Spuren von Nick Caves Leben, versuchen das Innerste des Ausnahmemusikers an die Oberfläche zu bringen und verfallen dabei nie in klassische Interview-Strukturen, sondern bewegen sich auf Augenhöhe durch die verschiedenen Meta-Ebenen. Damit schaffen sie ein tiefgründiges Werk, das auf über 300 Seiten die verschiedenen Facetten Nick Caves herausarbeitet, aber auch rohe Erkenntnisse über das Leben im Allgemeinen bereithält. Ein Buch, das so einnehmend ist, dass man sich danach nach einer langen Umarmung sehnt.

© Aufbau Verlag

4
Édouard Louis: "Anleitung ein anderer zu werden"

Édouard Louis ist ein Ausnahmetalent. Das hat er bereits mit seinem Debüt "Das Ende von Eddy" bewiesen und tut es erneut mit seinem autobiographischen Werk "Anleitung ein anderer zu werden". Mitreißend erzählt er von einer Kindheit in schwerster Armut, von der Scham über die eigene Herkunft und dem Willen, so viele Leben zu leben wie möglich. Als er vom Dorf in das große, verheißungsvolle Paris zieht, macht er sich frei von seiner Herkunft, ändert sogar seinen Namen und stürzt sich in alles, was es im Leben zu entdecken gibt. Er erfindet sich neu und stolpert dabei immer wieder über dieselben Fragen: Wie schließe ich Freundschaften? Was kann ich alles hinter mir lassen? Und wie schaffe ich es, mein Selbst komplett zu verändern, um endlich zu mir zu finden? Ein packendes Buch, das sich bereits in den ersten Seiten nach völliger Hingabe und Selbstaufgabe des Autors liest und das so wunderbar geschrieben ist, dass man es nicht mehr weglegen kann.

© Blumenbar Verlag

5
Asako Yuzuki: "Butter"

In Asako Yuzukis "Butter" geht es um Manako Kajii, die als verurteilte Serienmörderin im Gefängnis in Japan sitzt. Sie soll alleinstehende Männer zu sich eingeladen, mit ihren Kochkünsten verführt und sie anschließend ermordet haben. Als die junge Journalistin Rika davon hört, sieht sie darin sofort eine Geschichte und möchte sich mit Kajii zu einem Gespräch treffen. Doch diese stimmt einer Begegnung nur unter der Prämisse zu, dass sie lediglich über ihre Kochkunst, nicht aber ihre Vergehen sprechen möchte. Die beiden Frauen beginnen sich regelmäßig zu treffen – es entsteht eine seltsam-schöne Beziehung, die sich mit den Themen Genuss und Freundschaft, aber auch den unmöglichen Erwartungen, die an Frauen in der patriarchalen Welt gestellt werden, auseinandersetzt.

© Dumont Verlag

6
Kim de l'Horizon: "Blutbuch"

Ebenso wie der*die Autor*in ist auch der*die Protagonist*in des autofiktionalen Debütromans non-binär. Die Erzählfigur wächst in der schweizerischen Provinz auf, lebt mittlerweile in Zürich und ist so den engstirnigen, tradierten Mustern der Erziehung entkommen. Als die Großmutter allerdings an Demenz erkrankt, reist die Erzählfigur in die Vergangenheit zurück und beginnt Fragen zu stellen. Wieso kann er*sie sich nur spüren, wenn sie andere Personen sexuell befriedigt? Wieso verschmilzt die Existenz der Großmutter mit der ihrer Schwester? Was hat es mit dem Schweigen der Mütter auf sich? "Blutbuch" ist ein einzigartiges Buch, dessen nicht-lineare neue Erzählweise eine die Geschichte einer Familie wiedergibt und gleichzeitig Geschlechter und Klassenzugehörigkeit aufzulösen vermag. Auch wenn man sich zu Beginn etwas schwer tut, lohnt es sich, das Buch am Stück zu lesen, um in den Rhythmus der Geschichte einzutauchen.

© Hanser Verlag

7
Fatma Aydemir: "Dschinns"

2017 hat Fatma Aydemir mit ihrem erfolgreichen Debütroman "Ellbogen" deutlich gemacht, dass wir von ihr noch sehr viel mehr lesen wollen. Rund fünf Jahre später ist es soweit und sie veröffentlicht ihren neuen Roman. Mit "Dschinns" erzählt Aydemir nicht nur eine Familiengeschichte, sondern vielmehr Geschichten von sechs Protagonist*innen, die zufällig miteinander verwandt sind. Denn auch wenn sie eine gemeinsame Familiengeschichte haben, so hat jede*r einzelne von ihnen auch seine eigenen Probleme, Verletzungen, Ängste und Ziele. Eigentlich lebt die Familie in Deutschland, doch als der 30-jährige Hüseyin plötzlich kurz vor seinem Umzug nach Istanbul an einem Herzinfarkt stirbt, reist die Familie für die Beerdigung in die Türkei und versammelt sich in seiner Wohnung und arbeitet eine jahrzehntelange Familiengeschichte auf.

© Hanser Berlin Verlag

8
Behzad Karim Khani: "Hund Wolf Schakal"

Saam ist gerade mal elf Jahre alt, als seine Mutter während der iranischen Revolution hingerichtet wird. Da seine Familie in ihrer Heimat nicht nicht mehr sicher ist, flieht sein Vater also mit ihm und seinem kleinen Bruder Nima nach Deutschland – in der Hoffnung auf ein besseres Leben ohne Angst für seine Söhne. Doch in Berlin-Neukölln angekommen, kein Deutsch sprechend, fühlen die Jungs sich fremd und unwohl. Eine ältere Nachbarin bringt ihnen Deutsch bei, während sie versuchen, sich durch die eigenen Gesetze des Viertels zu mogeln. Ein Viertel, in dem die Währungen Markenjeans und Respekt sind und in denen die gute Erziehung und das Wohlwollen des Vaters wenig bringen. Während Saams Vater sein Leben mit Taxifahren und Backgammon und jeder Menge Trauer füllt und Nima eine mehr oder minder unbekümmerte Kindheit mit seinen Skate-Jungs verbringt, erkämpft sich Saam mit allen Mitteln und jeder Härte Respekt im Kiez – doch irgendwann geht er zu weit. Behzad Karim Khanis "Hund Wolf Schakal" solltet ihr unbedingt lesen!

© Suhrkamp Verlag

9
Ingeborg Bachmann, Max Frisch: "'Wir haben es nicht gut gemacht.' Der Briefwechsel"

"Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen. Leider.". Ingeborg Bachmann und Max Frisch zählen zu den aufregendesten Paaren der deutschsprachigen Literaturwelt. Als Bachmann 1958, als bereits gefeierte Lyrikerin, ihr erstes Hörspiel herausbringt schreibt Max Frisch, selbst prämierter Autor, ihr einen langen Brief, in dem er seine Begeisterung für jenes Hörspiel ausdrückt. Einige Wochen später antwortet Bachmann – der Beginn eines jede Trennung und jedes Leid überdauernden Briefwechsels. Insgesamt sind rund 300 Schriftstücke, vom Paar selbst aber auch von Verwandten, Freund*innen und Bekannten, erhalten. "'Wir haben es nicht gut gemacht.' Der Briefwechsel'" erzählt auf über 1000 Seiten von Liebe, von Leid, von Distanz, von Eifersucht und von Zweisamkeit.

© KiWi Verlag

10
Yade Yasemin Önder: "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron"

Ein Jahr nach dem Tschernobyl-Unglück wird die Ich-Erzählerin in der westdeutschen Provinz geboren – als Tochter eines übergewichtigen, türkischen Vaters, mit dem so gar nichts anzufangen ist und der sie nach seinem Tod mit der Mutter in einer toxischen Beziehung zurücklässt. In Önders Debütroman "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" erzählt sie in Form einer Familiengeschichte von Identität und Ankommen, von Zugehörigkeit und Körper. Als Lesende hören wir die Geschichte eines Großvaters, der ein Loch im Hals hat, von Sommern in Istanbul und von einer jungen Frau, die sich in ihrer Welt immer wieder verliert und auf der Suche nach sich selbst ist. Und während sie durch ihr Leben taumelt, kommt sie gedanklich immer wieder zu ihrem Vater und es beschleicht sie das Gefühl, dass jemand auch in seiner Abwesenheit zu präsent sein kann.

© KiWi Verlag

11
Hendrik Bolz: "Nullerjahre"

Hendrik Bolz ist den meisten vermutlich eher unter dem Namen seines Rap-Duos bekannt: Zugezogen Maskulin. Dass der Mann mit Worten umgehen kann, wissen wir also. Dass er Bücher schreiben kann seit diesem Jahr auch. Bolz ist 1988 in Stralsund geboren und hat, wie vermutlich viele von uns, seine Jugend in den 00er Jahren verbracht – und genau die beschreibt er in seinem gleichnamigen Buch "Nullerjahre". Von Mittagessen im Kindergarten der ehemaligen DDR, von Ferienlagern mit Nachtwanderungen, von endloser Langeweile, von Prügeleien mit Nazis, von Hip-Hop-Idolen, vom Mittagsprogramm auf den Privatsendern, vom grundlosen Komasaufen und den ersten Drogenerfahrungen. Wer hochtrabende Literatur sucht, ist hier falsch, wer ein Buch sucht, das mit der Wortwahl und den Gesprächen so nahbar ist, dass man sich zwangsläufig bisweilen in Bolz' oder die eigene Jugend versetzt fühlt, ist aber goldrichtig.

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