Wir wissen’s besser und machen es trotzdem: Warum wir Dinge tun, die schlecht für uns sind
Wir gehen abends zu spät ins Bett, obwohl uns klar ist, dass wir am nächsten Tag müde sein werden. Wir trinken immer wieder zu viel Alkohol, obwohl wir ganz genau wissen, dass wir am nächsten Morgen einen elendigen Kater haben werden. Das unschlagbare Angebot für die 19,90-Jeans bei Zara lässt uns schwach werden, obwohl wir uns sehr wohl darüber bewusst sind, dass das echt ein mieser Konzern ist. Wir holen uns an der Ecke noch schnell einen Coffee to go, obwohl das ganze Land gerade über das weltweite Plastikproblem spricht. Wir lügen, obwohl alle Welt weiß, dass sowas scheiße ist und Lügner stinken. Und wir bringen wieder mal kein "Nein" über die Lippen, obwohl wir ganz genau wissen, dass es für uns persönlich am Ende nichts als Stress bedeuten wird. Warum tun wir bloß so viele Dinge, von denen wir eigentlich wissen, dass sie schlecht für uns oder unsere Umwelt sind?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder von euch schon mindestens mehr als einmal im Leben irgendetwas gemacht oder gekauft hat und sich hinterher gefragt hat: "Warum zum Henker musste das jetzt sein? Ich weiß doch, dass es nicht nötig ist." Ich zum Beispiel bin Raucherin. Mittlerweile rauche ich schon mehr als die Hälfte meines Lebens. Und ja, natürlich weiß ich, dass das nicht gut für meine Gesundheit ist. Oder die der anderen. Aber davon mal abgesehen: Wenn ich morgens auf den Weg zur Bahn noch schnell eine durchziehe und es dabei meistens ziemlich eilig habe, schmeiße ich die Kippe manchmal reflexartig samt Filter auf den Boden, drehe mich auf dem Absatz um und lasse sie liegen. Is 'ne richtig blöde Angewohnheit, passiert mir aber immer wieder – und jedes Mal verpasse ich mir hinterher imaginär selbst eine Backpfeife dafür. Manchmal denke ich, noch viel schlimmer, auch einfach nicht mehr darüber nach. Dabei weiß ich natürlich, dass man keine Zigarettenfilter in der Gegend rumschmeißt. Shame on me!
Nie zuvor waren wir reflektierter, nie zuvor waren wir besser informiert als heute und niemals zuvor gab es mehr Alternativen, zwischen denen wir wählen konnten. Woher kommt es dann, dass wir uns trotzdem immer wieder bei Fauxpas ertappen, die eigentlich nicht hätten sein müssen.
Die Liste der oben genannten Beispiele ließe sich unendlich fortführen. Als wir uns neulich im Büro über genau jenes Thema unterhielten, brabbelten gleich alle ganz wild durcheinander drauf los. Jede*r konnte wie aus der Pistole geschossen mindestens eine Unart oder schlechte Angewohnheit nennen, über die er oder sie sich im Nachhinein ärgert, sich aber erstaunlich bewusst darüber ist. Das ist doch seltsam. Ich behaupte einfach mal: Nie zuvor waren wir reflektierter, nie zuvor waren wir besser über dies und das informiert als heute und niemals zuvor gab es mehr Alternativen, zwischen denen wir wählen konnten. Woher kommt es dann, dass wir uns trotzdem immer wieder bei Fauxpas ertappen, die eigentlich nicht hätten sein müssen. Ich habe mich mal ein wenig genauer mit dem Phänomen des "Schwachwerdens", wie ich es nenne, beschäftigt und bin auf vier Gründe gestoßen, die mir plausibel und nachvollziehbar erscheinen. Ich weise ausdrücklich darauf hin: Das sind mögliche Gründe und Erklärungen, deshalb aber noch lange keine Entschuldigung für unser Verhalten.
Grund 1: Das innere Belohnungssystem
Kommen wir noch einmal auf das Beispiel mit der 19,90-Jeans von Zara zurück. Angenommen, wir bummeln nach Feierabend nur mal eben noch ein bisschen durch die Geschäfte und sehen diesen unfassbaren Schnapper im Schaufenster, der obendrein auch noch richtig toll aussieht. Man überlegt nicht lange, geht in den Laden, probiert die Hose an (die dann auch noch passt) und mir nichts, dir nichts hat man sich in der Schlange an der Kasse eingereiht und zückt auch schon die EC-Karte. Ohne auch nur ein einziges Mal kritisch über die Kaufentscheidung nachzudenken. Dabei hatte man sich eigentlich vorgenommen, zukünftig weniger oder zumindest fair produzierte Ware zu kaufen. Wer’s kennt, der melde sich freiwillig! Ich frage mich, was das in solchen Momenten eigentlich in unseren Köpfchen vor sich geht? Eine allumfassende Antwort habe ich nicht gefunden, wohl aber einen möglichen Erklärungsansatz. Es handelt sich dabei wohl um das sogenannte neuronale Belohnungssystem, das in jeder*m von uns schlummert. Die US-Wissenschaftler James Olds und Peter Milner haben schon in den 1950er Jahren herausgefunden, dass äußere Reize in der Lage sind, ein bestimmtes Verlangen in unserem Gehirn zu aktivieren. Unser Gehirn erhält dann die Botschaft, dieses Verlangen zu stillen. Tun wir das, zum Beispiel in Form eines Kaufes, schütten wir das Glückshormon Dopamin aus – und das fühlt sich ziemlich klasse an. Der Reiz kann natürlich auch etwas total Leckeres wie Schokolade oder ein Getränk sein.
Grund 2: Das Gefühl von Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Akzeptanz
Wenn wir Dinge tun, die nicht gut für uns sind, wird oft das Argument der Unwissenheit gezückt. Sowas wie "Sie wusste es eben einfach nicht besser" haben wir sicherlich alle schon mal gehört. Viele Studien haben das aber inzwischen widerlegt. Die Ergebnisse zeigen, dass wir Menschen meistens sehr wohl in der Lage sind, Dinge realistisch einzuschätzen und abzuwägen. Das Problem liegt laut der Soziologin Cindy Jardine ganz woanders. Das Wissen um negative Konsequenzen oder Gefahren, wenn man nicht gut genug auf sich aufpasst, wird von vielen Menschen einfach durch den Drang nach gesellschaftlicher Anerkennung oder dem Gefühl nach Zugehörigkeit unterdrückt. Ein Beispiel: Auch wenn wir insgeheim alle wissen, dass es nicht gesund ist und unserem Sozialleben nachweislich schadet, machen viele Menschen Überstunden. Gesellschaftlich wurde uns seit jeher vermittelt, dass Überstunden erwünscht sind. Man erntet Anerkennung und Lob für seine "Mehrarbeit" und insgeheim ist man vielleicht auch manchmal ein bisschen stolz darauf. Was Überstunden aber auch bedeuten: Stress und Anspannung und weniger Entspannung. Auf Dauer ist das alles andere als gesund.
Grund 3: Ansteckung durch die Masse
Der französische Soziologe und Psychologe Gustave Le Bon forschte schon im 19. Jahrhundert über die Psychologie der Massen. In einem seiner Werke hat er sich genauer mit der Anonymität der Masse beschäftigt. Darin schlussfolgert er unter anderem, dass der Einzelne seine Verantwortung und manchmal auch die eigene Meinung schneller abgibt, wenn er sich in Massen bewegt. Heute spricht man in diesem Zusammenhang deshalb auch öfter von der Ansteckungstheorie. Macht der oder die eine etwas, macht der andere oder die es automatisch nach – auch wenn erstere*r vielleicht einen Fehler begeht oder eine moralisch denkwürdige Meinung vertritt. Sollte nicht so sein, aber wenn ich länger darüber nachdenke, ist da wirklich etwas Wahres dran. Wenn ich abends mit mehreren Freunden unterwegs bin und alle Alkohol trinken, neige ich dazu, mir auch einen Wein zu bestellen, obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, an diesem Tag nichts zu trinken. Sich Gruppendynamiken zu entziehen, erfordert Standfestigkeit und die Stärke, sich abzugrenzen. Schafft man das nicht, kann das im Zweifel dazu führen, dass wir Dinge tun, die wir eigentlich gar nicht wollen oder die schlecht für uns sind.
Grund 4: Schlechte Gewohnheiten und Routinen
Ein möglicher vierter Grund, weshalb wir manchmal nicht ganz so korrekte Entscheidungen treffen, sind Routinen. Routinen sind nicht per se schlecht, sie verleihen unserem Leben Struktur und dadurch auch Stabilität. In der Regel bauen sie sich aber über eine lange Zeitspanne auf, gehören irgendwann fest in unserem Alltag und lassen sich deshalb nur schwer wieder loswerden. Winzige Angewohnheiten und Verhaltensweisen sind so sehr in unserem Gehirn verankert, dass sie immer wieder automatisch abgerufen werden. Man begibt sich in eine gewohnte Umgebung oder findet sich in einer bekannten Situation wieder und zack hat man es einfach wieder getan. Das geht schneller, als man gucken kann. Meine Angewohnheit, Kippen auf den Gehweg zu schmeißen etwa, ist einfach eine dumme Gewohnheit, die ich mir gerade abgewöhne. Übrigens auch viele andere Dinge, die zu meiner täglichen Routine gehören: unregelmäßiges Essen, zu viel Kaffee und Mate trinken oder meine Tendenz zum Prokrastinieren. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn schlechte Angewohnheiten, die seit Jahren existieren, wird man nur mühsam wieder los. Unmöglich ist das Durchbrechen von Routinen allerdings nicht.
Zuletzt ist es mir wichtig zu sagen, dass all diese Dinge menschlich sind. Blöde Angewohnheiten und Handlungen, die sich in einem gewissen Rahmen befinden, machen uns nicht zu schlechten Menschen. Als Menschen besitzen wir aber auch die Fähigkeit, an uns zu arbeiten und können so gemeinsam die Welt ein Stückchen besser machen.