"Träume nicht dein Leben, plane deinen Plan" – Warum ich nichts von zu viel Organisation halte

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Jeden Sonntag Abend nehme ich meinen Kalender zur Hand. Es ist Zeit, die kommende Woche zu planen. Irgendwann einmal habe ich gelesen, dass man das besser schon am Sonntagabend machen soll, statt erst Montagmorgen. Also sitze ich da, schreibe To-Do-Listen, trage Termine ein, streiche Termine durch, hake ab, sortiere neu, verliere die Lust, klicke im Internet herum und beende meine abendliche Organisationsstunde, in dem ich mir eine To-Do-Liste für meine To-Do-Liste anlege und irgendeinen Papierstapel säuberlich neu staple, möglichst ohne die Papiere darin genauer anzusehen. Das muss reichen.

Wer seinem Leben nur mit dem Textmarker gegenübertritt und Stunden mit der minutiösen Organisation seiner Lebenszeit verbringt, verpasst unter Umständen das Wesentliche: das Leben selbst. Die spontane Schönheit unvorhergesehener Chancen, die Energie des Chaos und die unberechenbare Dynamik, die entsteht, wenn man nicht an den nächsten Punkt auf der Bucketlist denkt. Denn ehe man es sich versieht, geht es einem mit all der Organisiertheit wie Fräulein P.:

Das sortierte Leben des Fräulein P.

"Jeden Sonntag Abend nimmt Fräulein P. ihren Kalender zur Hand. Es ist Zeit, die kommende Woche zu planen. Fräulein P. benutzt dazu einen praktischen Kalender. Er hat das Format A3, ist etwa 12 Zentimeter dick und wiegt ungefähr dreieinhalb Kilogramm. Das klingt unhandlich, aber für Fräulein P. ist der Kalender in seiner Größe genau richtig. Sie trägt ihn stets in einer Tasche mit gepolsterten Trägern bei sich und auf Reisen reserviert sie immer zwei Plätze. „Da steht sozusagen mein ganzes Leben drin“, sagt sie manchmal lachend und es stimmt.

Fräulein P. nimmt also am Sonntag Abend ihr Kalenderbuch und plant ihr Leben. Wie das geht, hat sie in verschiedenen YouTube-Tutorials und aus Büchern gelernt, in denen schön gepflegte Frauenhände aufgeschlagene Kalenderseiten gestalten und aufwendig mit farblichen Markierungen, Stickern und Stempeln versehen. Es wird gezeigt, wie man seine Termine einträgt, wie man seine Einkaufsliste gestaltet und wie man sich „me-time“, sogenannte Zeit für sich selbst, in der Woche einplant, damit man nicht verrückt wird. Dazu nimmt man einen kleinen Sticker in Form einer Teetasse und klebt ihn auf den Samstag Nachmittag und das ist dann die „me-time“. In dieser Zeit muss Fräulein P. also Tee trinken und für sich sein. Das ist manchmal etwas langweilig, aber sie hat sich daran gewöhnt.

Bis vor einiger Zeit gab es noch einen kirschroten Bereich im Kalender für romantische Treffen mit ihrem Freund, einem jungen Finanzbuchhalter aus Grimma.

Fräulein P. spitzt also ihre Stifte und legt sie parallel zueinander auf dem Tisch bereit. Sie hat Bleistifte in den Härtegraden HB, H3 und B3 sowie einen Radiergummi. Dazu kommt ein wischfester Tintenroller in schwarz, ein Lineal, eine Schere, Tipp-Ex und wiederablösbares, beschriftbares Klebeband in vierzehn verschiedenen Farben und Mustern. Am wichtigsten sind aber die Textmarker. Fräulein P. besitzt sie in 36 Farben von Neon bis Pastell. Jedem Lebensbereich ist eine eigene Farbe zugeordnet. Grün für Sport, Gelb für Arzttermine, Blau für die Arbeit, Flieder für Telefonate mit der Familie, Ocker für Aktivitäten auf dem Balkon, dunkelrot für den wöchentlichen Besuch im Schreibwarenladen, um Bürobedarf und Füllerpatronen nachzukaufen. Bis vor einiger Zeit gab es noch einen kirschroten Bereich im Kalender für romantische Treffen mit ihrem Freund, einem jungen Finanzbuchhalter aus Grimma, den sie im Internet kennengelernt hatte. Die Beziehung zerbrach schließlich, weil er sich mehr Spontaneität gewünscht hatte, aber dafür war in ihrer Sortierung leider keine Farbe mehr frei gewesen. Den kirschroten Marker benutzt sie nun für die Tage ihrer Regelblutung.

Der Planungsvorgang ist stark ritualisiert und folgt einem durchdachten System. Zunächst wertet Fräulein P. die vergangene Woche aus. Dazu trägt sie in eine tabellarische Übersicht ein, wie gut sie in dieser Woche geschlafen hat, ob sie sich gesund ernährt hat, wie viel Sport sie getrieben und ob sie genug „me time“ gemacht hat. In dieser Woche ist fast alles im grünen Bereich, nur im Schlafprotokoll muss sie sich einen Punkt abziehen: aufgrund einer Zugverspätung kam sie letzten Donnerstag zu spät nach Hause und konnte die festgelegte Einschlafzeit nicht mehr einhalten. Ansonsten hat sie alle Aufgaben, Termine und Verabredungen erfolgreich innerhalb der festgelegten Zeit abgeschlossen. Fräulein P. ist zufrieden und vergibt sich für diese Woche eine Schulnote 2 in ihrem internen Bewertungssystem, das sich im hinteren drittel des Kalenders auf den blau umrandeten Seiten befindet.

Damit Fräulein P. nicht vergisst, sich schon am Vortag auf die Verabredung zu freuen, hat sie einen kleinen Bereich (0,02 Millimeter breit) in hellgelb markiert.

Für die kommende Woche stehen schon diverse Ereignisse fest. Diese trägt Fräulein P. mit dem Bleistift am jeweiligen Wochentag ein und markiert mit der entsprechenden Farbe optisch den Bereich. Die Breite der Markierung ist dabei der Dauer des Ereignisses angepasst. 0, 5 Millimeter stehen für jeweils ein Stunde. Am Freitagnachmittag zum Beispiel hat sie 0,43 Millimeter in zartrosa markiert. Das ist die Farbe für ihre Freundin T., mit der sie sich für diesen Tag auf einen Kaffee verabredet hat. Die 2,70 Euro, die der Kaffee mit Milchschaum kosten wird, hat Fräulein P. schon vorsorglich in eine kleine Extratasche hinten in ihrem Kalender gegeben. Damit sie nicht vergisst, sich schon am Vortag auf die Verabredung zu freuen, hat sie einen kleinen Bereich (0,02 Millimeter breit) in hellgelb markiert und mit einem Sonnen-Aufkleber versehen. Dann verziert sie noch die Seite mit der Wochenübersicht mit einer großflächigen Ölmalerei, einem Kupferstich und mehreren hundert Strasssteinen sowie einem motivierenden Zitat von Mark Twain. Auch die Brote für's Frühstück und die Blumen für die neue Kollegin am Mittwoch um 8 Uhr 47 klebt sie bereits ein. Nach siebeneinhalb Stunden ist sie fertig mit der Wochenplanung.

Fräulein P. fühlt sich gut vorbereitet auf das Leben, das da in ihrem Kalender auf sie wartet. Sie klappt ihn behutsam zu und stellt ihn in seiner Tragetasche zu ihrer für den nächsten Morgen schon bereitgelegten Kleidung. Dann spitzt sie noch einmal alle Stifte, reinigt den Radiergummi, schneidet säuberlich die Abrisskanten des Klebebandes ab und richtet ihre Utensilien akkurat auf dem Schreibtisch an. Zum Schluss stellt sie die Heißklebepistole und die Kupfernadel zurück an ihren Platz in den Aktenschrank, faltet sich Kante auf Kante zusammen und schiebt sich zum Schlafen zwischen die Ordner. Dort träumt sie bald von einem vergoldeten Etikettiergerät, denn auch ihre Träume hat Fräulein P. Anfang des Monats schon geplant."

Auch ihre Träume hat Fräulein P. Anfang des Monats schon geplant.
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