Manchmal zählt in der S-Bahn nicht der Fahrschein, sondern Nächstenliebe

© Hella Wittenberg

Es ist Herbst, als ich meine erste Fahrkartenkontrolle erlebe. Ich bin vielleicht vier oder fünf Jahre alt und gerade mit meiner Oma auf dem Weg zum Ku'damm, als der Kontrolleur in die Bahn steigt. Natürlich kann ich mich heute nicht mehr wirklich an ihn erinnern – nicht an sein Gesicht, seine Augen, seine Stimme. Aber ich erinnere mich, wie er einen flüchtenden Schwarzfahrer unter lautem Gebrüll durch den Waggon hetzt. Und ich erinnere mich daran, wie ich mich ängstlich hinter meiner Oma verstecke.

Für BVG und S-Bahn ist dieser Umstand ein echter Glücksfall – immerhin sorgt mein erstes Zusammentreffen mit der Berufsgruppe Kontrolleur dafür, dass ich wirklich nie auf die Idee komme, ohne gültigen Fahrschein in Bus oder Bahn zu springen.

Prompt steht ein Kontrolleur vom Format eines Profi-Wrestlers vor mir und schnauzt, 'Fahrschein!'. Schlagartig werden meine Wangen heiß und meine Hände feucht.

Es ist Winter und ich bin ungefähr 13, als ich trotzdem einen Fehler mache. In ein Buch vertieft fahre ich auf dem Heimweg aus der Innenstadt eine Station zu weit – was für ein Vorstadt-Kind wie mich bedeutet, dass ich mich plötzlich in einem ganz anderen Tarifbereich wiederfinde. Und natürlich steht prompt ein Kontrolleur vom Format eines Profi-Wrestlers vor mir und schnauzt, „Fahrschein!“. Schlagartig werden meine Wangen heiß und meine Hände feucht. Ich versuche mich zu erklären. Er fährt mir über den Mund. Statt mir zuzuhören, befiehlt er, ich möge an der nächsten Station mit ihm aussteigen. Als ich nicht sofort aufspringe, greift er mich am Pullover.

In diesem Moment schaltet sich eine dritte Stimme in das einseitige Gespräch ein. Ein graumelierter Herr in Hut und Mantel steht plötzlich neben uns und rügt den Kontrolleur für sein Benehmen. Das will der allerdings genauso wenig hören wie meine Erklärungen. Unwirsch fordert er den anderen Mann auf, er solle sich um seinen eigenen Dreck kümmern. Ein Fehler, wie sich herausstellen soll. Der Herr im Mantel zieht nun Kugelschreiber und Notizbuch aus der Innentasche seines Mantels. Freundlich aber bestimmt fragt er nach Namen oder Dienstnummer des Kontrolleurs. Er werde sich beschweren, fügt er mit einem dünnen Lächeln hinzu. Die Ankündigung wirkt wie ein Zauberspruch. Der Kontrolleur ist plötzlich viel weniger laut. Nun ist er es, der diskutieren, erklären, entschuldigen möchte. Letztlich komme ich ohne erhöhtes Beförderungsentgelt davon. Für den Rest des Tages finde ich den Herrn im Mantel mindestens so cool wie Batman.

Ich trage Kopfhörer und habe das allgemeine 'Die Fahrscheine, bitte!' offensichtlich überhört. Damit habe ich in den Augen dieses besonderen Exemplars wohl auch jeglichen Anspruch auf Höflichkeit verwirkt.

Es ist Frühling und ich bin Mitte 20, als sich wieder ein Kontrolleur vor mir aufbaut, diesmal in der U-Bahn. Ich trage Kopfhörer und habe das allgemeine „Die Fahrscheine, bitte!“ offensichtlich überhört. Damit habe ich in den Augen dieses besonderen Exemplars wohl auch jeglichen Anspruch auf Höflichkeit verwirkt. „Fahkade!“, blöckt er, als ich von meinem Sitz zu ihm hochschaue. Er schaut streng zurück. „Können Sie einen Satz draus machen?“, frage ich.

Er glotzt. „Was?“

„Können Sie bitte in vollständigen Sätzen mit mir sprechen?“, wiederhole ich freundlich.

Die Frage scheint anspruchsvoller zu sein, als ich gedacht hatte. Einen Moment zögert er. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter der wulstigen Stirn arbeitet. „Die Fahkade bidde“, erwidert er schließlich. Damit kann ich zufrieden geben. Ich zeige meine Umweltkarte vor.

Der Junge, der mir gegenüber in der S-Bahn sitzt, beginnt in seinem Rucksack zu kramen. Immer hektischer gräbt und wühlt er – ohne Erfolg.

Es ist ein Samstag im Sommer und ich bin gerade 30 geworden, als es wieder mal „Die Fahrscheine zur Kontrolle, bitte“ heißt. Der Junge, der mir gegenüber in der S-Bahn sitzt, beginnt in seinem Rucksack zu kramen. Immer hektischer gräbt und wühlt er – ohne Erfolg. Auch die Hosen- und Jackentaschen dreht er erfolglos auf links. Inzwischen ist er schon hochrot angelaufen. Seine Versuche, in seinem Sitz zu verschwinden, misslingen.

Ich fühle mich unweigerlich an mein dreizehnjähriges Ich erinnert, abgesehen davon, dass dieser Junge wesentlich stylischer angezogen ist, als ich das in dem Alter je hinkriegt hätte. Ein berechnender Gewohnheits-Schwarzfahrer ist das nicht; eher einer, dem gerade siedend heiß aufgeht, dass die Monatskarte noch in seiner anderen Jacke steckt.

Neben uns im Gang erscheint nun die Kontrolleuerin. „Den Fahrschein bitte, junger Mann!“ Der Junge traut sich kaum aufzusehen. Er öffnet den Mund, bringt aber keinen Ton raus. Ich halte der Kontrolleurin meine Umweltkarte hin. „Er fährt bei mir mit“, erkläre ich.

Die Kontrolleurin zieht die Augenbrauen hoch. Kritisch schaut sie zwischen mir und dem Jungen hin und her. Der starrt ungläubig zu mir hinüber.

„So is' dit aber nich' jedacht!“, setzt die Kontrolleurin an.

Ich stecke meine Umweltkarte wieder ein. „Er fährt bei mir mit“, wiederhole ich freundlich aber bestimmt, ohne noch einmal von meinem Telefon aufzuschauen.

Noch einmal schaut die Kontrolleurin zwischen uns hin und her. Dann zieht sie kommentarlos weiter. Aus dem Augenwinkel sehe ich derweil, dass der Junge immer noch zu mir hinüber schaut. Für den Rest des Tages hält er mich wohl für mindestens so cool wie Batman.

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