Wenn eine S-Bahnfahrt zum Märchen wird

© Johannes Kropf

Ich sitze in der S-Bahn und huste. Meteorologischer Herbstanfang hin und her, dieses Wetter ist eine Schande. Ein überpünktllicher Herbst nach einem verspäteten, kurz angebundenen Sommer – das ist einfach nicht fair. Weil ich mich zu lange geweigert habe, diese Ungerechtigkeit als Realität anzuerkennen, geschweigedenn mich dieser Realität gemäß zu kleiden, huste ich nun wohl. Und weil ich huste, habe ich schlechte Laune. Über den Tag verteilt habe ich gefühlt eine halbe Tonne Halsschmerztabletten gelutscht, aber das Ziehen und Kratzen wird einfach nicht besser. Selbiges gilt für meine Stimmung.

Man könnte meinen, dies wäre ein Shuttle zum Casting für die Realverfilmung von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ – jeder hier würde einen grandiosen Brummbär abgeben.

Wenigstens bin ich nicht allein mit meinem Leid: An diesem Abend, an dem es auch schon wieder viel zu früh dunkel wurde, bin ich umringt von dick eingemummelten, grimmig dreinblickenden Gestalten. Abgesehen von gelegentlichem Schniefen und Husten herrscht eisiges Schweigen im Abteil. Man könnte meinen, dies wäre kein Ringbahn, sondern ein Shuttle zum Casting für die Realverfilmung von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ – jeder hier würde einen grandiosen Brummbär abgeben.

Nächster Halt: Märchenwald

Ähnlich überrascht wie die Zwerge bei der Ankunft Schneewittchens sind wohl auch auch wir Fahrgäste, als die S-Bahn am Westhafen hält und die Türen sich öffnen. Die elfenhafte Gestalt, die aus dem kalten Dunkel in den Zug hüpft, sieht aus, als hätte sie noch vor ein paar Minuten an einem tropischen Strand in der Sonne gebadet. In ihrem luftigen Sommerkleid, dem Hut und den Flilflops wirkt sie wie einer Parallelwelt entsprungen. Selbst die geflochtene Umhängetasche, die sie über der Schulter trägt, wirkt wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung. Eine natürliche Bräune, die wohl keine Sonnenbank der Welt produzieren könnte, rundet das Gesamtbild ab. Dass die Elfe beim Warten auf die Bahn vor Kälte nicht blau angelaufen ist, grenzt an ein Wunder.

Während ich noch über die Theorie der Parallelwelten nachdenke, schwebt die Erscheinung mit leichten Schritten an mir vorbei den Gang hinunter. Alle Köpfe im Waggon drehen sich nach ihr um, aber falls ihr das auffällt, lässt sie sich nichts anmerken. Sie lässt sich in einem leeren Viererabteil nieder und schaut aus dem Fenster. Auf ihren Lippen liegt einen seliges Lächeln, dass hier im Zug der Knurrigen mindestens so fehl am Platz scheint wie ihr Urlaubs-Outfit. Gleichzeitig wippt ihr Fuß im Takt einer Musik, die nur sie hören kann. Ein ums andere Mal rutscht ihr dabei der Flipflop vom Fuß, und ein ums andere Mal schlüpft sie wieder hinein, ehe der Schuh auf dem Boden landet.

Alle Köpfe im Waggon drehen sich nach ihr um, aber falls ihr das auffällt, lässt sie sich nichts anmerken.

Am S-Bahnhhof Jungfernheide steigt ein älterer Herr in Mantel und Pudelmütze zu. Sein zur Faust geballtes Gesicht verwandelt sich in ein Fragezeichen, als er die Elfe erspäht. Als er sich auf den freien Platz ihr gegenüber fallen lässt, schenkt sie ihm ein Perlweißlächeln. Aus dem Fragezeichen wird ein Ausrufezeichen, und die Elfe wendet sie sich wieder dem Fenster zu, als gäbe es dort etwas zu verpassen.

Nun riskiere auch ich einen Blick. Vor dem Fenster zieht eine Welt in Schwarz und Grau an uns vorbei. Zu allem Überfluss hat es mittlerweie auch noch zu regnen angefangen (natürlich), und die Regenschlieren an der Fensterscheibe lassen die Außenwelt fragmentiert und zersplittert aussehen. Was ich sehe, ist nicht gerade angetan, meine Laune zu heben. Was die Elfe sieht, weiß ich nicht. Aber sie lächelt weiter glücklich.

Halensee. Es donnert. Die Elfe fängt ein letztes Mal ihren Flipflop zwischen Zehen, schlüpft wieder hinein und erhebt sich. Draußen regnet es Bindfäden. Unter den Blicken der Zwerge schreitet die Elfe den Gang entlang und tritt dann ohne zu zögern in den Regen hinaus. Ohne jede Eile setzt sie ihren Weg fort. Meine Blick folgt ihr, bis zu durch den Ausgang verschwunden ist.

Auch die Bahn fährt wieder an. Ich kann es selbst nicht ganz erklären, aber die Zwerge sind nun etwas weniger grimmig.

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