Was ist eigentlich mit Leuten los, die im Club einen Rucksack tragen?

© Matze Hielscher

Neulich geriet ich aus Umständen, die ich nicht mehr genau rekonstruieren kann, in etwas, das man Club nennt. Es war von vornherein klar, dass es sich bei diesem Etablissement nicht um einen besonders guten Club handeln konnte, denn schon in der Einlassschlange sichtete ich mehrere Menschen mit diversen von mir verabscheuten Schuhmodellen. Doch zu spät, ich war in Begleitung weniger kritischer und vor allem deutlich betrunkenerer Freundinnen und bat deshalb meinen inneren Karl Lagerfeld zurück in meine Jackentasche.

Wer im Club den Rucksack auflässt, isst auch Eiersalat in der Bahn

Nach erfolgreicher Taschenkontrolle durch einen klassischen Türsteher ohne Hals und Haare und nachdem wir an der Bar gefühlt kostbare sieben Jahre unserer Jugend für Drinks vergeudet hatten, fanden wir uns auf der brechend vollen Tanzfläche wieder. Die “Nachtschwärmer”, wie Lokaljournalisten in diesem Kontext gerne sagen, waren bereits in fortgeschritten ausgelassener Stimmung. Mir fiel bei dieser Gelegenheit wieder ein, dass ich mit Techno nichts anfangen kann und tanzte unsicher wie eine geschiedene Chemielehrerin bei der Weihnachtsfeier den “Tanz der Moleküle”: Schrittchen links, Schrittchen rechts, großräumig mit der Hüfte ausschwenken, in der einen Hand den Drink, in der anderen den Tennisschläger von Drake. Es war sehr anstrengend, dabei auch noch so auszusehen, als hätte ich Spaß und ich bin relativ sicher, dass ich es nicht geschafft habe.

Wer im Club den Rucksack auflässt, hat nicht nur den Sinn von Garderoben, sondern das ganze Konzept 'Nachtleben' nicht verstanden.

Plötzlich wurde ich mit solcher Wucht angerempelt, dass ich einige Schritte in die tanzende Masse hineintaumelte wie ein betrunkener Abiturient bei der Abschlussfahrt. Als ich mich umdrehte, sah ich sofort den Grund dafür: ein betrunkener Kerl, Abiturjahrgang ungefähr 2018, mit geschätzter Promillezahl eines mittelguten Notendurchschnitts, fegte mit seinem vollbepackten Rucksack auf dem Rücken auf der Tanzfläche umher. In mir kochte sofort das lodernd weißglühende Feuer absoluten Unverständnisses. Wie kommt ein Mensch auf die Idee, seinen Rucksack im Club aufzulassen? Was ist der Sinn? Welche Vorteile hat es?

Diese Frage konnte ich natürlich gleich selbst beantworten: gar keinen einzigen. Wer im Club seinen Rucksack auflässt, wirkt wie ein Ninja Turtle in Zivil, mit dem Unterschied, dass seine Bewegungen deutlich weniger behände aussehen – mit anderen Worten also: vollkommen bescheuert. Wer im Club den Rucksack auflässt, hat nicht nur den Sinn von Garderoben, sondern das ganze Konzept “Nachtleben” nicht verstanden, denn hier geht es um Leichtigkeit, nicht um Sperrgepäck. Ich assoziierte mich innerlich immer mehr in Rage. Wer im Club den Rucksack auflässt, isst auch Eiersalat in der Bahn! Wer im Club den Rucksack auflässt, ist ungefähr so lässig wie ein Geigenkoffer! Rucksackträger raus aus meiner Tanzperformance!

Ist der Rucksack im Club in Wahrheit eine clevere Raumbeschaffungsmaßnahme?

Ich hätte ja rückblickend gerne die rempelnde Tanzflächen-Schildkröte gefragt, was da im Rucksack drin war, aber in der Akutsituation fehlten mir vor Wut alle notwendigen Charaktereigenschaften dafür. Ich brachte mich in Sicherheit, auch, um zu verhindern, dass ich einen meiner tödlichen Wutblitze aus den Augen schoß und damit “murder on the dancefloor” beging. Es gibt ohnehin nur drei Möglichkeiten, warum dieser Kerl seinen Rucksack aufgelassen hatte. Erstens: Er wollte in einer Tanzpause noch Schulaufgaben machen. Zweitens: Er konnte sich zu Hause nicht für ein Outfit entscheiden und hatte noch ein weiteres Paar Boxfresh-Sneakers und ein T-Shirt mit “California 1979”-Print mitgenommen. Oder, drittens, er plante, einen One-Night-Stand zu haben, kann aber außer Haus nicht ohne eigene elektrische Zahnbürste, Wohlfühlsocken und Geolino-Lektüre einschlafen und nahm vorsichtshalber alles mit.

Auf meiner nach unten offenen Skala des Unverständnisses rangierten Rucksackträger im Club bis zu diesem Moment irgendwo bei 'Menschen, die im Flugzeug sofort nach der Landung aufstehen.'

Der Typ zog unterdessen weiter unbeirrt seine Bahnen auf der Tanzfläche und blieb an jeder einzelnen Person in seiner Nähe mit dem Rucksack hängen, bis sich ein entnervter Kreis augenrollender Menschen um ihn gebildet hatte. Da verstand ich plötzlich: Der will keine Schulaufgaben machen, der will sich nicht umziehen und er will auch keinen unverbindlichen GV – der will einfach nur Platz zum Tanzen. Ähnlich wie Eltern, die mit ihren längst eigenständig laufenden Sprösslingen mit dem Kinderwagen über den Flohmarkt am Mauerpark rattern und mit ihm als Rammbock das Menschenmeer teilen, damit sie als erstes an den Stand mit den heißen Kirschwaffeln kommen, diente auch dem Rucki-Tänzer sein rückwärtiger Anbau nur als Raumbeschaffungsmaßnahme. Wie clever! Wie nervig, wie egoistisch – aber verdammt, wie clever!

Auf meiner nach unten offenen Skala des Unverständnisses rangierten Rucksackträger im Club bis zu diesem Moment weit, weit außerhalb der Sichtweite, etwa irgendwo bei “Menschen, die im Flugzeug sofort nach der Landung aufstehen". Aber nach dieser Erkenntnis mischte sich zu meinem nachhaltigem Hass auch eine gewisse zähneknirschender Bewunderung.

Vielleicht trage ich das nächste Mal auch einen Rucksack im Club?

Am Ende des Abends verließ ich die pumpende Basshölle mit zwiespältigen Gedanken. Einerseits schien die Idee, bei der nächsten “girl’s night out” selbst einen Rucksack zu tragen und damit endlich Platz für meine legendäre Carlton-Banks-Choreographie zu haben, sehr verlockend. Gleichzeitig verbot sich mir genau das aus Stilgründen. Was also nun? Ich beschloss, das zu tun, was die letzten Jahre meines nicht existenten Partylebens auch schon funktioniert hatte: nur noch in meinen kleinen, schrammeligen Lieblingsklub zu gehen. Da kenne ich mich aus, da kenne ich den Türsteher, den Text zur Musik und da tragen die Leute höchstens schmale Stoffbeutel über dem Arm. Und die Tanzfläche ist eine tatsächliche Tanzfläche, kein schlecht beleuchteter Rangierbereich für Schwertransporter auf Beinen.

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona diesem seltsamen, komplizierten, immer wieder neuen Leben Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen unscheinbaren Rätseln des Alltags. Und weil man als erwachsener Mensch alles selber machen muss, liefert sie die Antworten gleich mit.

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