Berlin war schon immer ein Ort der Zugezogenen

© Kerstin Musl

Nicht erst seit dem großen Zuzug geflüchteter Menschen nach Deutschland im Jahr 2015 wird immer wieder mit bitterem Beigeschmack darüber diskutiert, inwiefern verschiedene Kulturen zu Deutschland gehören – und damit Angst vor "Überfremdung" geschürt. Beeinflusst von dieser Berichterstattung entwickelte der Kunsthistoriker und Restaurator Tobi Allers Stadtführungen, die zeigen, dass Berlin schon immer ein (Zufluchts-)Ort verschiedenster Menschen und Kulturen war und ist – und die Stadt genau deshalb zu dem spannenden Ort macht, der sie ist.

Jetzt hat der Kunsthistoriker und Restaurator sein erstes Buch veröffentlicht, das sich diesem Thema ausführlich widmet. Bei uns könnt ihr die einleitenden Worte aus "Neuberliner – Migrationsgeschichte Berlins vom Mittelalter bis heute" lesen.

© Sascha Wolters

Aus: Neuberliner – Migrationsgeschichte Berlins vom Mittelalter bis heute

Migration ist ein Thema, an dem man in diesen Tagen kaum vorbeikommt.

Hunderttausende Menschen fliehen jährlich aus Kriegsgebieten und suchen auch in Deutschland Schutz. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen mag dies manchen als eine historische Ausnahmesituation erscheinen, doch tatsächlich gab es Flucht und Migration – in geringerem wie in größerem Ausmaß – schon immer und in vielen Fällen wurde die Geschichte einer Region von ihren Migranten entscheidend mitgeprägt.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist Berlin. Die Geschichte der deutschen Hauptstadt ist ohne ihre zahlreichen Einwanderer überhaupt nicht zu erzählen. Wer könnte sich die heutige Metropole vorstellen ohne den Einfluss von Hugenotten, Juden oder Gastarbeitern? In den wenigsten Fällen funktionierte das Zusammenleben mit den eingesessenen Berlinern reibungslos und selten wurden die Neuberliner von den Einheimischen geliebt. Ohne Zweifel jedoch hatten die Zuwanderer eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Stadt.

Die Geschichte der deutschen Hauptstadt ist ohne ihre zahlreichen Einwanderer überhaupt nicht zu erzählen.
Tobi Allers

Die Motive für die Neuankömmlinge, ihre angestammte Heimat zu verlassen und nach Berlin zu ziehen, waren höchst unterschiedlich und wechselten über die Jahrhunderte. Flucht und Migration waren dabei ständige Begleiter der Stadtgeschichte und sorgten für Austausch sowie häufig für kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung. Ebenso oft kam es allerdings auch zu Vorurteilen, Missverständnissen und Ausgrenzung, wovon sogar die gemeinhin als vorbildliche Einwanderer geltenden französischen Hugenotten nicht verschont blieben. Sie brachten Ende des 17. Jahrhunderts handwerkliches Know-how mit nach Berlin und förderten den Wohlstand der Stadt, doch dass sie nur wenige Jahre nach ihrer Ankunft ein Viertel der Bevölkerung stellten, führte bald zu Problemen mit den Einheimischen. Eine Annäherung dauerte teilweise Generationen, im Falle der Böhmen, die im 18. Jahrhundert nach Rixdorf (heute Neukölln) kamen, fast 140 Jahre!

Selbst die Hohenzollern, die mit ihren Kurfürsten, Königen und Kaisern jahrhundertelang in Berlin residierten, stammten ursprünglich nicht aus der Mark Brandenburg, sondern aus Schwaben. Sprachprobleme gab es schon damals, war doch im 15. Jahrhundert hierzulande noch das Plattdeutsch verbreitet und nicht das von den Schwaben als feiner angesehene Hochdeutsch. Die Sprache erweist sich tatsächlich immer wieder als eines der zentralen Themen, wenn es um Integration einerseits und die Pflege von Kultur und Brauchtum andererseits geht. Das belegen nicht allein die aktuellen Debatten um Sprachkurse und die Bereitschaft von Migranten, Deutsch zu lernen. Bereits in der französischen Gemeinde des frühen 19. Jahrhunderts diskutierte man, ob die französische Sprache zugunsten der Integration aufzugeben sei oder ob dies ein Verlust der eigenen Identität bedeute.

Dass die deutsche Sprache durchaus Einflüssen aus anderen Sprachen ausgesetzt ist, weiß man hingegen nicht erst, seitdem „Babo“ (für „Boss“) 2013 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde und verstärkt Anglizismen auftreten. Vor allem in der Berliner Mundart kennt man natürlich die aus dem Französischen übernommene „Bulette“ und auch außerhalb davon wünscht man sich „Hals und Beinbruch“. Letzteres brachten die Juden mit in die deutsche Sprache, die in Berlin seit dem 17. Jahrhundert dauerhaft siedeln durften – allerdings ohne die gleichen Rechte wie die übrigen Bürger und nur gegen fürstliche Bezahlung. Viele große Köpfe der Stadt waren im Übrigen Juden und insbesondere die Zeit der Aufklärung und der industriellen Revolution wäre in Berlin ohne die gebildeten und erfindungsreichen jüdischen Kaufleute und Unternehmer sicherlich anders verlaufen.

Vor allem in der Berliner Mundart kennt man natürlich die aus dem Französischen übernommene 'Bulette' und auch außerhalb davon wünscht man sich 'Hals und Beinbruch'. Letzteres brachten die Juden mit in die deutsche Sprache.

In den wilden Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts war sie weithin berühmt und berüchtigt für ihr ausschweifendes Nachtleben und noch heute zieht man gern Parallelen zu dieser Zeit, wenn von der Anziehungskraft der Stadt auf junge Menschen gesprochen wird. In den Weltkriegsjahren kamen zahlreiche ausländische Saison- und Zwangsarbeiter hinzu und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erneut ausländische Arbeitnehmer für den Wiederaufbau nach Berlin gerufen. Die Zeit der Teilung hinterließ dabei im Osten und im Westen der Stadt je ganz eigene Migrationsspuren. So prägen heute vor allem die türkischen „Gastarbeiter“ der BRD und ihre Nachkommen in Bezirken wie Kreuzberg das Stadtbild, wohingegen in Lichtenberg die ursprünglich als Vertragsarbeiter in die DDR gekommenen Vietnamesen eine große lebendige Gemeinde bilden.

Auch in diesen Tagen wächst Berlin wieder in einem enormen Tempo und Menschen unterschiedlichster Herkunft strömen aus verschiedensten Gründen in die Stadt. Und heute wie damals bringt jeder von ihnen etwas nach Berlin mit, das die Stadt auf vielfältige Weise bereichern und zu ihrer Entwicklung beitragen kann.

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