Wenn die Straßen Berlins dein Zuhause sind – Debora Ruppert porträtiert Obdachlose

Täglich begegnen uns Menschen auf der Straße, täglich sehen wir Menschen unter Brücken, im U-Bahntunnel, an großen Plätzen oder in Häusereingängen sitzen. Sie bitten uns um Geld, etwas zu Essen, etwas zu Trinken oder um unsere Aufmerksamkeit. Meistens fragen wir uns, was sie mit den paar Cent, die wir ab und zu mal locker machen, anstellen. Seltener fragen wir uns, was den Menschen widerfahren ist, dass die Straße ihr Zuhause geworden ist.

Unsere Fotografin Debora Ruppert hat genau das getan. Für ihr Projekt "Street Life Berlin" hat sie Obdachlose in Berlin nach einem Foto und ihrer Geschichte gefragt. Herausgekommen ist dabei eine berührende Fotostrecke, die uns daran erinnert, das Dach über unserem Kopf und den Wohlstand, den wir haben, wieder mehr wertzuschätzen.


"Dieses Portrait ist das erste, mit dem 2009 alles begann. Ich lernte diesen jungen Mann aus Osteuropa am Alex kennen. Er saß im Rollstuhl. Beide Beine waren amputiert. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe auch nicht nachgefragt. Bewusst habe ich nur sein Gesicht und den Alex im Hintergrund aufgenommen und nicht den Rollstuhl und seine Beinstümpfe. Ich habe nach diesem Tag, öfters nach ihm Ausschau gehalten, aber ich habe ihn leider nie wieder getroffen. Diese Begegnung ist nun 7 Jahre her und manchmal, wenn ich am Alex bin, denke ich an ihn und frage mich, wie es ihm geht…"


Warum wolltest du Obdachlose in Berlin porträtieren?
Das Projekt hat sich sehr spontan entwickelt. 2009 hatte ich einen Termin für eine Streetart-Vernissage bei der Kolonie Wedding. Circa zwei Wochen vorher traf ich die Entscheidung, die ganze Konzeption nochmal umzuwerfen. Der Kurator gab mir diese Freiheit. Ich wollte, dass die Ausstellung den Charakter des Weddings, insbesondere des Soldiner Kiezes, widerspiegelt. Ein Aspekt sollte hierbei Portraits von Obdachlosen sein.

Als Passant wird man ja meistens eher von den Obdachlosen angesprochen, wenn sie einem um Geld bitten. Wie bist du auf sie zugegangen?
Ich bin einfach ich selbst und gehe auf die Menschen zu. Dann ergibt sich meistens sehr natürlich ein Gespräch. Ich interviewe sie nicht über ihre Lebensgeschichte, sondern ich bin offen für die Begegnung. Was in dieser Begegnung geschieht, ist sehr stark abhängig von meinem Gegenüber. Manchmal unterhalte ich mich mit Einzelnen, mal mit einer ganzen Gruppe. Die Gesprächsthemen sind von der spontanen zwischenmenschlichen Dynamik geprägt. Ich gehe mit keiner vorgefertigten Agenda und keinem Fragenkatalog auf den Einzelnen zu. Manchmal scherzen wir auch einfach etwas.

Wie reagieren die Menschen auf deine Anfrage? Sind sie eher reserviert oder wollen sie endlich mal jemandem ihre Geschichte erzählen?
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Die meisten sind erstmal vorsichtig, etwas misstrauisch und es braucht einige Zeit, bis sie im Gespräch warm werden. Mir ist es wichtig, dass ich das Schenken von Zeit und Aufmerksamkeit nicht davon abhängig mache, ob jemand bereit ist, sich fotografieren zu lassen. D.h. auch wenn jemand kein Porträt möchte, bleibe ich trotzdem im Gespräch. Es gibt einige Begegnungen, die nie durch eine Kamera festgehalten wurden. Andere wiederum schon, wie z.B. die Begegnung mit diesem symphathischen Mann im Kleinen Tiergarten in Moabit. Es hat sich spontan ein Gespräch über Fotografie ergeben, weil er ebenfalls eine kleine Kamera hatte und mir erzählt, dass er manchmal fotografiert. Außerdem haben wir über seinen Hund gesprochen.

Was hast du bei dem Projekt über Obdachlose gelernt?
Wenn ich mich verabschiede, sage ich, dass ich wiederkomme und ihnen die entwickelten Bilder als Geschenk mitbringen werde. Ich habe das Gefühl, dass die meisten mir das nicht glauben. Ich denke, auf der Straße haben etliche viele Enttäuschungen erlebt und sind dadurch misstrauisch geworden. Sie sind sehr vorsichtig, bevor sie einem Vertrauen schenken.

Ein paar Wochen nach dem ersten Treffen radele ich dann mit den entwickelten Fotografien im DIN-A4-Format zurück zu den Plätzen, wo wir uns begegnet sind. Die Überraschung und das ungläubige Staunen, dass ich wirklich wiedergekommen bin, sind meistens groß. Nicht alle Porträitierten finde ich wieder. Manchmal fahre ich zwei bis drei Mal zu einem Ort und habe kein Glück. Einzelne sind, wenn ich wieder komme, auch so stark alkoholisiert und stoned, dass sie es nicht richtig mitbekommen, wenn ich ihnen das Portrait gebe.

Andere, die ich nüchtern antreffe, sind sehr berührt davon, sich auf dem Foto zu sehen. Ich habe das Empfinden, dass oftmals ihre Selbstwahrnehmung und ihr Selbstbild ganz anders ist als das Porträt. Manche lachen dann verlegen. Die meisten zeigen die Aufnahme ganz stolz ihren Kumpels. Die Art, wie sie es in den Händen halten oder an sich drücken, zeigt mir, das es sehr kostbar für sie ist. Ich habe das Gefühl, dass manchen das Portrait etwas an Würde und Selbstwert zurückgibt. Manche sagen dann spontan: "Ich lad Dich auf einen Schnaps ein". Das Angebot habe ich aber bisher noch nicht angenommen.

Und was hast du über dich selbst gelernt?
Was ein Blick schenken kann… Ich empfinde Porträtaufnahmen als ein Geschenk, sowohl für die Person vor, wie auch hinter der Kamera. Porträtfotografie bedeutet für mich, in einen Dialog mit meinem Gegenüber zu treten – oftmals ohne Worte. Manchmal geschieht das Wunder, dass sich ein Mensch mir gegenüber durch seinen Blick öffnet und mir etwas von seinem Charakter, seiner Biographie, seiner Verletzlichkeit und seinen Wunden, aber auch von seinen Hoffnungen und Träumen zeigt. Das kann man nicht produzieren, das ist ein Geschenk in der gemeinsamen Begegnung.

Bei den Gesprächen hast du sicher erfahren, an was es den Leuten fehlt und wie wir ihnen helfen können. Hast du Tipps?
Es gibt zwei Organisationen, die ich sehr schätze. Bei Querstadtein zeigen ehemalige Obdachlose ihre Berlin. Wo kühlt man im Sommer sein Bier? Wo übernachtet man? Wo bekommt man etwas zu Essen, wenn man keine Kohle hat? Uwe, ein ehemaliger Obdachloser, der jetzt einer ihrer Stadtführer ist, habe ich persönlich kennengelernt. Was ich toll finde ist, dass Querstadtein auf Augenhöhe mit ehemaligen Obdachlosen zusammenarbeitet und einen sehr direkten Einblick in ihre Lebenswelt gibt. Man läuft mit ihnen gemeinsam durch die Stadt und beginnt Berlin aus ihren Augen zu sehen. Dadurch können Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden. Hier kann man sich direkt zu einer Tour anmelden.

Außergewöhnlich gute Arbeit macht auch die Bahnhofsmission am Zoo. Sie haben durchgehend geöffnet und dienen als Anlaufstelle für Obdachlose. Sie haben ein Cafe, geben Essen, Kleidung und warme Getränke aus. Eine Friseurin, die in Frührente ist, kommt ein Mal die Woche vorbei und schneidet Obdachlosen kostenlos die Haare. Eine ganz beeindruckende Arbeit! Dieter Puhl leitet die Bahnhofsmission am Zoo. Man kann dort im Ehrenamt mitarbeiten, einige Freunde von mir haben sich dort engagiert und von Herausforderungen, aber auch von schönen Begegnungen berichtet.

Vielen Dank, Debora!

"Teufel habe ich im Mai 2015 kennengelernt. Er war einer der Wenigen, der sich mir mit Namen vorstellte. Viele Männer und Frauen sind auf der Straße nur unter ihren Spitznamen, wie Keule, Blondie, Zecke etc. bekannt. Sein Humor war mir sehr sympathisch. Ich hatte das Gefühl, der Schalk sitzt ihm im Nacken. Er kommt aus Osteuropa und spricht gebrochen Deutsch. Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt. Er lebt unter einer Brücke am Bahnhof Zoo. Zu diesem Zeitpunkt standen dort 7 kleine Campingzelte, in denen er und andere Männer und Frauen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland etc. wohnten."

"Dieser Frau bin ich am am Kottbusser Tor begegnet. Sie war sehr vorsichtig und zurückhaltend. Ich finde sie hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Eine außergewöhnliche Schönheit, Tiefe und Sensibilität. Ich habe mich öfters gefragt, was ihr auf ihrem Lebensweg begegnet ist, dass ich sie an diesem Punkt am Kottbusser Tor, umringt von stark alkoholisierten Männern und einigen Junkies, getroffen habe."

"Wir sind uns am Leopoldplatz begegnet, haben einige Worte gewechselt, und er hat mir sein Okay für ein Portrait gegeben. Dann saß er einfach da, sein Gesicht der Sonne zugewandt, ganz andächtig versunken, fast schon meditaitv. Er hatte eine sehr sanfte Ausstrahlung unter seinem stoppeligen Bart, nahezu zart. Es ist mir selten jemand auf der Straße begegnet, der sich so offen und verletzlich hat fotografieren lassen. Inmitten des oftmals rauhen und harten Straßenlebens war es für mich ein ganz besonderer Moment, einen Blick auf die Sensibilität und Sanftmütigkeit eines Menschen zu erhaschen."


Mehr über Deboras Projekt könnt ihr auf ihrer Seite Street Life Berlin erfahren.


Fotos: © Debora Ruppert

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