Bin ich mutig, weil ich Tinder lösche? – Was eine App mit unserem Datingverhalten macht
In seiner Kolumne “Romeo und Julius” erzählt Autor Julius Geschichten von seiner Suche nach der Liebe in Berlin. Von schrägen Dates, gebrochenen und geheilten Herzen und der schimmernden Hoffnung, dass es den einen Romeo da draußen geben muss. Das ist Episode 5.
„Und dann?“, will meine Freundin Lara wissen, mit der ich mir eine Classic-Pizza im Standard Restaurant in Mitte teile. „Dann habe ich ihm gesagt, dass ich Tinder gelöscht habe. Und er hat gesagt, dass er dort auch nicht mehr ist. Und jetzt – naja, jetzt warte ich, bis er aus dem Urlaub zurück kommt und dann schauen wir den Sommer über, was aus der Sache wird.“, antworte ich und trinke einen Schluck Chardonnay. Lara schaut irritiert. „Du hast – Tinder gelöscht?“, wiederholt sie langsam. „Genau.“, puste ich Zigarettenqualm in die milde Julinacht. „Also, er ist jetzt zwei Wochen weg, dann verbringt ihr einen gemeinsamen Abend und danach ist er zwei weitere Wochen weg?“, wiederholt sie meine Aussage wie bei einem Verhör, „Und du hast Tinder gelöscht?“ „Genau“, antworte ich, mit zunehmender Angst, dass mir gerade ein Mord angehängt wird. „Und in der Zeit dazwischen wartest du einfach? Ohne mit Anderen zu schreiben?“ „Ja, also nein, ich schreibe mit keinem anderen Mann.“ „Krass!“, schüttelt Lara leicht den Kopf, faltet ein Stück Pizza in ihrem Mund zusammen und spült es mit einem guten Schluck Wein runter. „Ja.“ „Ich würde das nicht machen.“, sagt sie schließlich und wischt sich das Mozarella-Fett von den roten Lippen.
Die Top-10-Männer
Dass sich Lara mit dem Gedanken schwer tut, sich im Dating auf einen potentiellen Mann zu beschränken und einem möglichen "Wir" Raum zu geben, wusste ich bereits. Ich habe ihr Datingleben über die letzten Jahre live und in Farbe miterlebt. Lara ist smart, schön, extrovertiert, ihren Freunden bis zum bitteren Ende treu und, seit ich sie kenne, Single auf der Suche. In dieser Suche schreibt sie immer mit vielen Männern, die gleichzeitig auf den Top 10 ihrer aktuellsten Whatsapp-Nachrichten sitzen, und das eben auch, wenn sich ihr Herz gerade für einen Kerl im Besonderen öffnet. Drei der Top-10-Männer kenne ich dabei ziemlich gut, weil sie schon länger in Laras Leben sind als ich. Da gibt es den Einen, mit dem sie vor 6 Jahren im Kater geknutscht hat und seitdem immer mal wieder an Freitagabenden, den Blonden aus ihrer Abizeit, auf dessen Brust sie auch heute noch gerne einschläft und ihre allererste Beziehung, die ihr immer mal wieder ein Nacktbild schickt. Der Rest ist eine fluktuierende Dunkelziffer. Einen Kontaktabbruch von ihrer Seite gab es in den fünf Jahren, die wir uns jetzt kennen, wahrscheinlich nur bei den richtigen Arschlöchern, denen, die ihr das Herz gebrochen haben. Obwohl ich mich frage, ob das der richtige Weg ist, die Suche anzugehen, kann ich ihr Verhalten gut nachfühlen, weil es ein verständliches Ziel für Berliner Singles verfolgt: am Ende nicht alleine sein.
Es ist schwer, weiterhin an das Gute zu glauben. Aber müssen wir deswegen so ängstlich und fast abgebrüht sein? Bin ich mutig, weil ich Tinder lösche?
Als wir uns später nach der Pizza verabschieden, flüstert mir Lara ins Ohr. „Du bist einer von den Mutigen“, sagt sie weinselig und tanzt zur nächsten U-Bahnstation. „Mutig…“, wiederhole ich immer wieder fragend, während ich meine Kopfhörer aufsetze und mich auf den Nachhauseweg mache. Das Wort will nicht so recht passen. Ich weiß, wie schwierig es ist, jemanden kennenzulernen und sich einzulassen. Ich hatte meinen "fair share" an peinlichen Dates, Clubknutschen ohne Frühstück am Bett und Zurückweisung dieser einen Person, von der ich geliebt werden wollte. Ja, es ist schwer, weiterhin an das Gute zu glauben. Aber müssen wir deswegen so ängstlich und fast abgebrüht sein? Bin ich mutig, weil ich Tinder lösche?
Das Ghosting
Am Wochenende darauf schwirrt die Frage immer noch in meinem Kopf herum, als mich meine alte Freundin Paula in Berlin besucht. Es ist Samstag, der perfekte Tag für Day-Drinking. „Und wie läuft es bei dir und den Jungs?“, frage ich Paula nach einem langen Catch-Up über den Job, während wir beim dritten Aperol Spritz auf den weißen Bierbänken des Rosengarten zusammensitzen. „Aktuell läuft es.“, beginnt sie ihre Erzählungen, bevor sie zum unabdingbaren und immer spannenden „Aber“ ausholt und ihr letztes Dating-Jahr resümiert. Vor allem bei einem Mann, den sie heute nur noch mit Berufsstand betitelt, schaltet ihre Platte auf 50% der Erzählgeschwindigkeit. Es geht um den Polizisten. Sie lernte ihn über Tinder kennen, sie schrieben ausgiebig und waren sich sympathisch. Auf die Frage, was der andere jeweils auf der App suche, kamen sie beim gemeinsamen „Alles kann, nichts muss“ an, einer Floskel, die ich schon häufig in meinen Singlekreisen gehört habe. Später trafen sie sich, hatten weitere gute Gespräche und teilten schöne Küsse, alles mit dieser „lockeren Einstellung“, das unterstreicht sie, während sie den gelben Aperol-Strohhalm ansetzt. Trotzdem schrieb Paula mit keinem anderen Mann mehr, sie wollte sich einlassen, offen sein, für das „Alles kann“, auch wenn nichts musste. Nach dem vierten Date schrieb der Polizist eine kryptische Nachricht. Er hätte im Moment viel zu tun. Viel um die Ohren. Würde eh bald versetzt. Und einen Tag später ist sein Profilbild aus dem gemeinsamen Chat verschwunden. „Der hat mich einfach gelöscht, geghosted“, sagt Paula. „Wir haben geschrieben und geküsst und dann war er weg“.
Als ich mit meinem Strohhalm nur noch Luft durch Eiswürfel ziehe, sind wir wieder in ihrem aktuellen Datingleben angekommen. „Und wie ist das mit dem Neuen?“, frage ich. „Das ist gut, aber ich schreibe auch noch mit diesem anderen Typen aus Oberfranken. Mal schauen, was da draus wird.“, sagt sie und während sie den Anruf ihrer Mutter entgegennimmt, frage ich mich, ob wir a) alle einfach schon zu viele falsche Männer gedatet haben oder b) mein Löschvorgang doch etwas mutig war. Beides, beschließe ich und werde zum ersten Mal nervös, dass sich die Husky-Augen, die Auslöser für mein monogames Datingverhalten sind, aus dem Gebirgsurlaub über die letzten vier Tage nicht gemeldet haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass ein bisschen Angst und mein neues Abzeichen doch berechtigt sind.
Lana Del Rey auf den Ohren
Mit der wachsenden Angst vor dem Wieder-alleine-sein und der Ghosting-Story des Polizisten im Hinterkopf trage ich das Abzeichen am Montag darauf, auf dem Fußweg zur Arbeit, plötzlich ziemlich stolz mit mir herum. Meine Attitüde ist die eines Kriegers, der ohne Schild und Schwert, schutzlos in den Kampf zieht, auf meinen Ohren liegt Lana Del Rey. Über die gesamte Veteranenstraße genieße ich dieses Gefühl und nenne es fast Stärke. Soweit bis sein Name auf meinem Smartphone erscheint. „Die Verbindung hier ist ein Desaster“, steht auf dem Bildschirm. „Aber heute sind wir endlich in einem Hostel mit WLAN“, steht da. „Wie geht es dir denn, Julius?“ und „Ich denke viel an dich.“ Mit jedem Satz verschwindet der Mut, der mir angesprochen wurde und den ich, schneller als gedacht, angenommen habe – und wird durch ein verschossenes Grinsen, das sich zwischen meine Wangen quetscht, ersetzt. Ich werde schwach. Als ich in die Bergstraße einbiege, ist mein Schritt leicht und meine Gedanken liegen ohne weiteres Hadern glücklich auf seinem Brusthaar. „Mit mutig sein hat das bei ihm nicht viel zu tun.”, denke ich. Mit ihm geht es auch ohne Tinder.