Literarischer Jahresrückblick: Das sind unsere 11 liebsten Bücher, die 2021 erschienen sind

© Wiebke Jann

Wir sind ehrlich. Genauso wie im vergangenen Jahr, hatten wir auch 2021 Zeit, um zu lesen. Sehr viel Zeit. Denn selbst fast zwei Jahre später ist unser Alltag noch immer von Corona-Regelungen, Lockdowns und Inzidenzen bestimmt. Was hilft, um dem zumindest phasenweise trüben Alltag zu entfliehen? Ganz klar: Lesen. In fremde Geschichten abtauchen. Egal ob ein verquerer Liebesroman von Heinz Strunk, ein Vor-Ort-Bericht des Dorfkorrespondentin Juli Zeh oder eine mitreißende Coming-of-Age-Geschichte von Benedict Wells: Im Jahr 2021 wurden sehr viele, sehr gute Bücher geschrieben. Wir haben einen Deep Dive durch unsere Leselisten und Bücherregale gemacht und versammeln hier unsere liebsten Neuerscheinungen.

Mithu M. Sanyal: "Identitti"

Wer bestimmt eigentlich unsere Identität? Darf ich mir das einfach aussuchen? Wie viel zählt mein Zugehörigkeitsgefühl, meine Herkunft, die Herkunft meiner Eltern? In Mithu M. Sanyals Roman "Identitti" werden diese Fragen auf ein neues Level gehoben, denn: Niveditas Professorin für Postcolonial Studies Prof. Saraswati gibt sich als Person of Colour aus und das, obwohl sie eigentlich weiß ist! Für Nivedita, die sich erst durch Saraswati mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzt, bricht eine Welt zusammen. Doch das ist nicht das einzige Problem, mit dem sie sich auseinandersetzen muss. Schließlich hat sie noch einen emotional interessanten Sometimes-Boyfriend, einen indischen Vater, mit dem sie nichts verbindet, eine crazy Cousine, die in England aufgewachsen ist, einen persönlichen Blog und regelmäßige Beratungsgespräche mit der Göttin Kali. Zwischen all dem, was eine junge Studentin eben so bewegt, taucht auch noch der ganze Identitäts-GAGA auf, der – so humorvoll und locker Saynal auch schreibt – eine zentrale, wichtige und fast schon aufklärerische Rolle einnimmt. Dass man bei einem so wichtigen Thema ernsthaft lachen kann (und darf), haben wir diesem Buch zu verdanken! Und dass wir noch dazu sehr viel über Identitätssuche und über uns selbst lernen auch. Solche Bücher sollten wirklich mehr geschrieben werden.

432 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

© Hanser Verlag | © S. Fischer Verlag

Judith Hermann: "Daheim"

Im neuen Roman"Daheim" von Judith Hermann begleiten wir die Protagonistin dabei, wie sie fundamentale und teilweise nichtige Entscheidungen trifft und getroffen hat. Nachdem ihre Tochter auf Reisen gegangen und sie sich von ihrem Mann getrennt hat, zieht sie raus ans Meer in ein abgelegenes Häuschen. Dort angekommen, arbeitet sie bei ihrem Bruder in der Gastwirtschaft und hört sich sein Liebesleid an, lernt ihre etwas schräge Nachbarin Mimi kennen und schwimmt mit ihr im Hafenbecken. Sie verliebt sich in einen grobschlägigen Schweinezüchter, vermisst ihre Tochter, die als Lebenszeichen meist nur Koordinaten schickt, und berichtet in kurzen Nachrichten ihrem Ex-Mann von ihrem Leben. Hermann schreibt mit viel Sinnlichkeit und Tiefe und schafft es, den Lesenden ein Gefühl für die Landschaft, die Leute und die zentrale Bedeutung von Erinnerung zu vermitteln. Wenn du mal wieder ein Buch am Stück lesen und die Zeit vergessen möchtest, können wir dir "Daheim" nur wärmstens empfehlen.

192 Seiten | 21 Euro | Mehr Info

Hengameh Yaghoobifarah: "Ministerium der Träume"

Vor dieser Situation hatten wir – vielleicht auch unbewusst – alle schon einmal Angst. Die Polizei klingelt an der Tür und beginnt diesen einen Satz: "Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen...". Das erlebt die Protagonistin Nas in Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman "Ministerium der Träume". Ihr wird mitgeteilt, dass ihre Schwester Nush bei einem Autounfall gestorben ist. Gemeinsam haben sie die Flucht nach Deutschland durchlebt, die Anfälle ihrer Mutter weggesteckt, Anfeindungen von Nazis überstanden. Nach Nushs Tod übernimmt Nas nicht nur die Verantwortung für Nushs Tochter, sondern auch für ihre Geschichte: Sie will herausfinden, was ihre Schwester gefühlt und erlebt hat, ob ihr Tod ein Unfall oder doch ein Suizid war und natürlich will sie wissen, wieso ihre Schwester sie einfach mit allem "im Stich" gelassen hat. Yaghoobifarah erzählt von dem unzerstörbaren Band zwischen Geschwistern. Von einer Flucht nach Deutschland – und den Opfern, die jede*r einzelne dafür bringen muss. Von den dunklen Seiten Deutschlands und einer von Angst und Hass geprägten Kindheit. Von Familien, in die man geboren wird und Freund*innen, die zur neuen Familie werden. Sie beschreibt Situationen so minutiös und detailreich, dass wir uns genau vorstellen können, wie die Wohnungen der Protagonist*innen aussehen und wie Nas auf dem Elternabend ihrer Nichte sitzt. Sollte es eine Verfilmung geben, hätten wir jetzt schon eine genaue Vorstellung davon, wie alles aussehen sollte.

384 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

© Blumenbar Verlag | © Penguin Verlag

Takis Würger: "Noah – von einem, der überlebte"

Noah ist gerade mal 13 Jahre alt, als er jüdische Kinder aus Belgien nach Frankreich schmuggelt – und 17 Jahre, als er nach Auschwitz deportiert wird. Takis Würger erzählt in seinem neuen Buch "Noah – von einem, der überlebte", wie Noah sich als Boxer ausgab, um nicht zu verhungern. Wie er nackt im Schnee auf der Stelle läuft, um nicht zu erfrieren. Wie er mit Josef Mengele um sein Leben verhandelt und wie er gemeinsam mit über 4.000 Jüdinnen und Juden versucht, mit dem Schiff "Warfield" in seine Heimat Israel zu gelangen. Diese Seiten zu lesen, macht einen tieftraurig und beschämt. Es nimmt einem die Luft zum Atmen. Es ist ganz und gar schwer zu ertragen. Dennoch dürfen wir diese Geschichten niemals vergessen. Wir dürfen niemals aufhören, sie zu erzählen, denn nur so können wir uns daran erinnern, dass wir alles tun müssen, damit so etwas nie wieder passiert.

Parallel zum Buch ist ein Hörbuch entstanden, das ihr euch bei Audible anhören könnt. Eingelesen wurde es von Aaron Alataras und seiner Mutter Adriana Altaras, Jannik Schümann, Sabin Tambrea, Anna Thalbach und Takis Würger selbst.

188 Seiten | 20 Euro | Mehr Info 

Benedict Wells: "Hard Land"

Sam ist 15 Jahre alt, lebt in den 1980er Jahren in einer Kleinstadt in Missouri mit seiner schwer kranken Mutter und seinem unemotionalen Vater. Freund*innen hat Sam keine, dafür aber sehr viele Ängste – bis er im Sommer 1985 einen Ferienjob im Kino annimmt. "Hard Land" liest sich wie die Essenz aller von Wells bisher geschriebenen Bücher. Es erzählt vom Ende der Einsamkeit. Vom Ende des Außenseitertums. Von einem letzten gemeinsamen Sommer. Von dem Schmerz, von den eigenen Eltern nicht geliebt zu werden oder sie zu verlieren. Von Freundschaften und erster Liebe. Von Mut und Ängsten. Wells schafft mit Worten, was andere nicht einmal mit Bewegtbild hinbekommen: eine Geschichte so nah und unmittelbar zu erzählen, dass man als Lesende*r jede Emotion spüren und erleben kann. Dieses Buch zu lesen, fühlte sich an, als hätte man ein vierstündiges Drama von Lars von Trier gesehen und definitiv (zu) viel gefühlt.

352 Seiten | 24 Euro | Mehr Info

© Diogenes Verlag | © KiWi Verlag

Shida Bazyar: "Drei Kameradinnen"

"Das sind Freund*innen von früher, wir kennen uns schon seit dem Kindergarten". Diesen Satz haben sicher viele schon einmal gesagt. Gelegentlich auch in Situationen, in denen man feststellt, dass diese "Freund*innen von früher" gar nicht mehr so gut in das Leben passen, das wir mittlerweile führen. Ähnlich geht es den Protagonist*innen von Shida Bayzars Roman "Drei Kameradinnen". Hani, Kasih und Saya sind eben solche Kindheitsfreundinnen – und jene beschließen, endlich mal wieder ein paar Tage gemeinsam zu verbringen. Sie gehen auf Partys, in Bars, hängen auf dem Dach ab und schlendern durch den Kiez. Augenscheinlich ist alles gut. Doch es beginnt zu brodeln, denn eine der dreien ist verzweifelt auf Jobsuche und wird trotz Abschluss vom Amt schikaniert, die andere ist wahnsinnig erfolgreich und tourt durch die Welt, um Vorträge und Workshops zum Thema Rassismus und Sexismus zu halten und dazwischen passiert etwas, das alles in Frage stellt. Dieses Buch erzählt von Herkunft, Zugehörigkeit und Alltagsrassismus, aber auch von bedingungsloser Liebe und Vertrauen zwischen Freundinnen.

352 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

Johanna Adorján: "Ciao"

Hans ist Mitte vierzig, erfolgreicher Feuil­le­to­nist und das, was man in der alten Schule als "Edelfeder" bezeichnet. Entsprechend groß ist sein Ego. Er hat eine tolle Frau, eine clevere Tochter und eine ziemlich attraktive Praktikantin. Für Männer wie Hans ist das Leben spitze – zumindest so lange, bis einem die eigene Tochter Vorwürfe macht, wieso man eine Lobeshymne auf einen Künstler schreibt, der nachweislich Kinder missbraucht hat. Oder ein Interview mit einer jungen Feministin einer medialen Hinrichtung gleicht und die Karriere an der eigenen weißen Cis-männlichen Einstellung zu zerbrechen droht. "Ciao" von Johanna Adorján erzählt von Veränderung, vom Älterwerden und ein bisschen von der Liebe und das alles in Form einer wunderbar humorvollen Gesellschaftssatire. 

272 Seiten | 20 Euro | Mehr Info

© KiWi Verlag | © Rowohlt Verlag

Kira Jarmysch: "Dafuq"

In Kira Jarmyschs Buch "Dafuq" macht Anja Romanowa eine zehntägige Auszeit von ihrem Alltag – allerdings nicht ganz so, wie sie es sich vorstellt. Statt sich auszuruhen und ihr doch recht turbulentes Leben zwischen verpatztem Berufsstart und Dreieckes-Liebesbeziehung, verbringt sie zehn Tage im Moskauer Gefängnis, weil sie zu einer Demo gegen Regierungskorruption aufgerufen hat. Dort teilt sie sich die Zelle mit Maja, die verschiedenste Schönheits-OPs hinter sich gebracht hat und deren Lebensaufgabe es ist, reiche Männer kennenzulernen. Und mit Irka, die ihr gesamtes Geld vertrinkt und deswegen keine Alimente für ihre Tochter zahlen kann oder Natascha, die sogar schon mal im Straflager war. Obgleich die Frauen ihre gemeinsame Zeit in Haft eint, könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Als Lesende dürfen wir die Frauen zehn Tage lang begleiten – und erleben, was es heißt, inhaftiert zu sein, denn: Jarmysch gliedert ihre Geschichte nach Tagen, beginnend mit dem Aufwachen unter der viel zu dünnen Decke, dem Frühstücksappell, der Visite und endend mit der quälenden Langeweile, den Hofgängen, den Gesprächen und den mitunter gruseligen Ängsten und Wahnvorstellungen, die einen heimsuchen. Es werden Gespräche über Reichtum, traditionelle Rollenbilder, Identitäten, Putin und Freiheitsliebe geführt. Gespräche, die die Zerrissenheit einer Gesellschaft zeigen, die von Willkür und Repression, aber auch Aufbruchsstimmung erzählen – ein facettenreiches Gesellschaftsbild des Russlands unserer Generation.

416 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

Heinz Strunk: "Es ist immer so schön mit dir"

Wenn Heinz Strunk über die Liebe schreibt, wird es absurd. Das wissen wir spätestens seit seinem großartigen Roman "Jürgen". Im Sommer dieses Jahres erschien sein neuer Roman "Es ist immer so schön mit dir", in dem wir einen Mann kennenlernen, der sich mit Mitte vierzig von seiner langjährigen (langweiligen) Freundin trennt, weil er sich in die bildschöne und blutjunge Schauspielerin Vanessa verknallt. Und zwar so richtig. Mit unpassenden sprachlichen Ausfällen, peinlichem Herumschleichen – und dennoch von Erfolg gekrönt. Nach mehreren wirklich unangenehmen Dates – selbst beim Lesen möchte man wirklich ungern dabei sein – küsst Vanessa ihn endlich. Irgendwann darf er sie sogar nach Hause begleiten. Doch die schöne Vanessa hat auch ihre Päckchen zu tragen und so entwickelt sich die Romanze mit der schönen Schauspielerin zu einer wirklich verqueren Beziehung, in der unser Protagonist nicht nur einmal sprach- und ahnungslos ist. Strunk erzählt, ganz wie man es von ihm gewohnt ist, mit einer Mischung aus trockenem Humor, ehrlichen Personen- und Szenenbeschreibungen und brillanten Wortwitzen eine Geschichte über die etwas andere Liebe.

288 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

© Rowohlt Verlag | © Luchterhand Verlag

Juli Zeh: "Über Menschen"

Muss man Juli Zeh eigentlich noch empfehlen? Vielleicht nicht, sie zählt ja ohnehin derzeit zu den wichtigsten deutschen Autor*innen. Sie darf an dieser Stelle trotzdem nicht fehlen, weil uns ihr neuer Roman "Über Menschen" in diesem Jahr nicht nur sehr gut unterhalten, sondern auch viel zum Nachdenken gebracht hat. Was würden wir tun, wenn unser Nachbar uns gegenüber super hilfsbereit und nett, er aber auch ein stadtbekannter Nazi ist und das Horst-Wessel-Lied singt? Kann man wirklich immer in den Dialog gehen? Wir bewegen uns in Berlin in einer Bubble, in der natürlich niemand perfekt ist, aber über PoC, Antirassismus und Gender Equality gesprochen wird. Eine Bubble, in der alle alles gut machen wollen. In derselben Bubble lebt auch die Protagonistin Zehs, Dora, bevor sie sich in das fiktive Dorf Bracken vor Corona flüchtet. Dort wohnt sie neben dem Dorfnazi, ignoriert rassistische Witze eines anderen Nachbarn und lernt ein homosexuelles Pärchen kennen, das die AfD wählt. Und während des Lesens fragt man sich, wie man selbst wohl an Doras Stelle handeln würde. Ein interessantes Buch und ein noch viel interessanterer Selbstversuch, bei dem wir zugegebenermaßen nicht immer gut wegkommen.

416 Seiten | 22 Euro | Mehr Info

Cho Nam-Joo: "Kim Jiyoung, geboren 1982 Kim Jiyoung, geboren 1982"

Das Außergewöhnliche an diesem Roman ist, dass er eigentlich absolut keine außergewöhnliche Geschichte erzählt. Im Gegenteil: In Cho Nam-Joos Debütroman geht es um Erfahrungen, die Millionen Frauen überall auf der Welt jeden Tag machen. Dabei dreht er sich eigentlich erst mal um die Geschichte einer einzigen Frau: Kim Jiyoung, eine junge Frau aus Seoul, die Mitte 30 ist und eine Psychose erleidet. Der Psychiater, den sie aufsucht, berichtet nun auf schlichte, nüchterne Weise vom Leben der Protagonistin. Mit jeder Seite, auf der ihre Erlebnisse geschildert werden, beschleicht uns als Leser*innen stärker das Gefühl, dass es sich bei Jiyoungs Erfahrungen nicht um individuelle Schwierigkeiten handelt, sondern um strukturelle Probleme – Probleme, die in einer patriarchalen Gesellschaft tief verankert sind. An dieser Stelle muss wahrscheinlich nicht mehr erwähnt werden, dass dies auf unsere westliche Gesellschaft ebenso zutrifft wie auf die koreanische. Der Roman ist 2021 in der deutschen Übersetzung von Ki-Hyang Lee bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, nachdem er sich in Korea weit über eine Million Mal verkaufte und eine regelrechte #MeToo-Bewegung ausgelöst hat. Die minimalistische Sprache und das wiederkehrende "Solche Situationen kenne ich doch auch"-Gefühl machen diesen Roman zu einem wirklich eindrucksvollen Leseerlebnis, das uns noch einmal auf ganz andere Art und Weise vor Augen führt, welche Auswüchse die alltägliche Misogynie in unserer Gesellschaft annimmt.

208 Seiten | 18 Euro | Mehr Info

© KiWi Verlag

Bücher, Bücher, Bücher

Lesevergnügen #21: 11 Neuerscheinungen für den Winter, die wirklich lesenswert sind
Jetzt im Winter wird die heimische Couch unser Sehnsuchtsort. Diese Neuerscheinungen sollten auf eurem Lesestapel deshalb nicht fehlen:
Weiterlesen:
Lesevergnügen #18: 11 Bücher von queeren Autor*innen, die ihr kennen solltet
Wir denken, es ist an der Zeit, die Leselisten um das eine oder andere Buch zu erweitern, das queere Perspektiven und Lebensrealitäten in den Fokus rückt.
Weiterlesen:
Zurück zur Startseite