Lesevergnügen #25: Lesenswerte Bücher zum Thema Antisemitismus und jüdische Kultur

© Insa Grüning

Um Beispiele für Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu finden, müssen wir nicht erst zu dem US-amerikanischen Rapper Kanye West oder Basketballstar Kyrie Irving blicken – und auch nicht auf deren Sponsoren, die ihren Teil mit der Aufkündigung der jeweiligen Verträge als erledigt sehen. Auch in Deutschland ist Antisemitismus leider noch immer weit verbreitet. Im vergangenen Jahr stieg die Anzahl antisemitisch motivierter Straftagen im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent – die von der Justiz nicht eindeutig zugeordneten Fälle dürften den Anstieg noch größer machen. Ein katastrophaler Höchststand, der es unausweichlich macht, uns mehr mit Antisemitismus und der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. Wir alle sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass Antisemitismus weder in unserer Sprache noch in unserer Gesellschaft Platz findet. Diese Bücher können dabei helfen.

© S. Fischer Verlag

1
Laura Cazés (hrsg.): "Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland"

Wer über das Judentum spricht, kommt an der Shoah und Antisemitismus zwangsläufig nicht vorbei. Damit werden Juden*Jüdinnen zu Objekten der Thematik, ihr eigenes Leben wird häufig nicht thematisiert. Doch was bedeutet es eigentlich, als Jude*Jüdin in einem Deutschland nach der NS-Zeit zu leben? Welche Rollen werden einem als Jude*Jüdin in der Gesellschaft übergestülpt? Welche verschiedenen Positionen gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinde? Welchen Schmerz und welches Leid trägt man in sich? Und gleichermaßen welche Hoffnungen? Laura Cazés hat zwölf jüdische Autor*innen, unter anderem Mirna Funk, Richard C. Schneider, Sharzad Eden Osterer und Daniel Donskoy eingeladen, ihre Sicht der Dinge aufzuschreiben. Entstanden ist ein Band mit persönlichen Essays, die nicht frei von Wut und gleichsam gefüllt von Hoffnung daherkommen.

© Berlin Verlag

2
Michel Friedman: "Fremd"

Die eigene Lebensgeschichte auf 200 Seiten niederzuschreiben ist schon Kunst genug, sie dann aber auch noch in Lyrik zu hüllen, ohne die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lesenden durch Abschweifen zu verlieren ist schon fast ein Meisterwerk. Friedman erzählt von einem Jungen, der gemeinsam mit seinen Eltern in das Land zurückkehrt, das die Familien seiner Eltern ausgelöscht hat. Ausgerechnet hier soll er nun ankommen. Doch die deutsche Gesellschaft begegnet dem Jungen und seiner Familie mit Judenhass, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Wie fühlt man sich als Heranwachsender, der sich zwischen der Ablehnung der Gesellschaft und der Fürsorge und Angst der Familie entfalten soll? Michel Friedman ist es mit "Fremd" gelungen, die Geschichte eines Einzelnen so gut zu erzählen, dass sich in eben jener Persönlichkeit viele wiederfinden können.

© Hanser Verlag

3
Delphine Horvilleur: "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus"

Delphine Horvilleur ist eine von drei Rabbinerinnen in Frankreich. Sie ist Chefredakteurin des Magazins jüdischen Tenou'a  und eine der einflussreichsten Stimmen des liberalen Judentums in Europa. In ihrem Essay geht sie dem Zusammenhang von Antisemitismus, Faschismus und Misogynie auf den Grund, sucht nach dem Ursprung antisemitischen Denkens und beschäftigt sich mit der Frage nach jüdischer Identität. Wie sieht diese aus, wenn sie nicht vom antisemitischen Blick kreiert definiert wird? Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Und was hat Antisemitismus mit Frauenfeindlichkeit zu tun? Ein spannendes Essay, das zur Beantwortung jener Fragen gleichermaßen religiöse Texte und die politische Gegenwart zurate zieht.

© Hentrich & Hentrich Verlag

4
Samuel Salzborn: "Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern"

Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der Shoah galt lange Zeit als Erfolgsgeschichte. Doch wie viel ist dran an dem bundesdeutschen Selbstbild, wenn die Anzahl antisemitisch motivierter Angriffe jährlich zunimmt? Wenn vor der Gedenkfeier des 50. Jahrestags des Attentats von Olympia die Angehörigen noch immer im Streit um Entschädigungen sind. Wie viel Aufarbeitung hat tatsächlich stattgefunden? Was steckt hinter der deutschen Erinnerungskultur? Zwischen Täter-Opfer-Umkehr und der Selbststilisierung als Opfer scheint 75 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit ein neuer Konsenz gefunden worden zu sein: Der Mythos der kollektiven Unschuld.

© Hanser Verlag

5
David Baddiel: "Und die Juden?"

Den*die Nazi anzuklagen, 0ffenkundig rechtspopulistische Menschen zu canceln und für Diversität, Inklusion und natürlich gegen Homophobie, Rassismus und jegliche Form der Diskriminierung zu sein, sollte zur gesellschaftlichen Normalität gehören. Ebenso wie die Verurteilung von Antisemitismus. Aber werden in der Gegenwart alle Arten der Feindlichkeit gleich behandelt? Wird Judenhass, der gerade immer mehr in die Mitte der Gesellschaft rückt, genauso in den Debatten berücksichtigt wie der auf andere Minderheiten? Der britische Comedian David Baddiel ist berühmt für seine politischen Kommentare. In seinem Buch bringt er es mit einer guten Mischung aus Beobachtung, persönlicher Erfahrung und unangenehmen Wahrheiten auf den Punkt: Wir müssen dringend reden.

© BTB Verlag

6
Max Czollek: "Gegenwartsbewältigung"

Max Czollek ist Anfang 30, jüdisch und wütend. Nicht Steine-werfend-wütend, sondern wütend darauf, was in Deutschland für ein Integrationstheater gespielt wird. Nachdem er einen großen Erfolg mit seinem ersten Buch "Desintegriert euch!", in dem er spannende Denkanstöße zu Integration und Zugehörigkeit gab, feierte, folgte 2020 sein zweites Buch, das nicht weniger wütend und gleichsam lösungsorientiert ist. In "Gegenwartsbewältigung" schreibt er ein Manifest für eine plurale Gesellschaft, reflektiert die heutige Gesellschaft und zeigt ihre Probleme und mögliche Lösungen auf. Wie muss eine Gesellschaft sein, damit sie in der heutigen Zeit solidarisch sein kann? Welche Überzeugungen müssen wir dafür aufgeben und welche neuen finden wir dadurch?

© Penguin Verlag

7
Takis Würger: "Noah"

In "Noah – von einem, der überlebte" erzählt Würger die Geschichte von Noah Klieger, der übrigens auch Co-Autor ist. Noah ist gerade mal 13 Jahre alt, als er in seiner Heimat Belgien beginnt, jüdischen Kindern bei der Flucht nach Frankreich zu helfen – und 17 Jahre, als er von deutschen Soldaten nach Auschwitz deportiert wird. Er erzählt, wie er sich als Boxer ausgab, um "mehr Suppe" zu bekommen. Wie er nackt im Schnee auf der Stelle läuft, um nicht zu erfrieren. Dass man den unmenschlichen Massenmord an rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden lapidar als "In den Kamin gehen" bezeichnete. Wie er mit Josef Mengele um sein Leben verhandelt und wie er gemeinsam mit über 4.000 Jüdinnen und Juden versucht, mit dem Schiff "Warfield" in seine Heimat Israel zu gelangen, erzählen diese Seiten.

© Hoffmann und Campe Verlag

8
Gerhard Henschel: "Neidgeschrei. Antisemitismus und Sexualität"

"Der Sexualantisemitismus existiert seit mindestens 2000 Jahren und ist von Anbeginn sehr viel mehr gewesen als nur eine Begleiterscheinung der abendländischen Geschichte." Der Autor Gerhard Henschel beschreibt in seinem Buch den sexuellen Neid als ein emotionales Hauptmotiv der Judenfeindschaft. Ein Aspekt, der nicht immer miteinbezogen wird und der dennoch ein leider ziemlich relevanter Faktor ist, nicht nur im Bezug auf Antisemitismus, sondern generell, wenn es um Feindbilder in unserer Gesellschaft geht. Henschel zeigt auf, dass dieses Kreieren von Feindbildern die Mentalität der Gesellschaft widerspiegelt, in der sie herrschen.

© KiWi Verlag

9
Esther Safran Foer: "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind"

In ihrem ersten Buch begibt sich Esther Safran Foer auf die Suche nach der Geschichte ihrer Familie, die, wie bei so vielen jüdischen Familien, vom NS-Regime teilweise ausgelöscht wurde. Von ihrer Mutter erfährt sie, dass ihre Vater eine frühere Ehefrau und sogar eine weitere Tochter hatte, Esthers Halbschwester. Beide wurden im Holocaust ermordet. Wie konnte ihr Vater überleben? Mit einem Foto und einer handgezeichneten Karte reisen die Autorin und ihr Sohn auf den Spuren ihres Vaters in die Ukraine. Und tatsächlich finden sie die Nachfahren der Menschen, die ihren Vater damals versteckten und sie erfährt sogar den Namen ihrer Halbschwester. Dieses Buch erzählt eine Familiengeschichte, wie sie es leider viel zu oft gibt. Eine Geschichte, die vier Generationen maßgeblich geprägt hat und noch viele weitere prägen wird.

© Berlin Verlag

10
Ronen Steinke: "Terror gegen Juden"

Was ist eigentlich in Deutschland los, dass wir es hinnehmen, dass vor Synagogen, jüdischen Schulen und anderen jüdischen Einrichtungen die Polizei steht? Die Antwort ist leicht, wie schockiert: Das Leben in Deutschland ist für die jüdische Gemeinschaft heute zu gefährlich. Wie konnten wir es zulassen, dass eine Minderheit in Deutschland nur noch unter Polizeischutz zur Schule oder in den Gottesdienst gehen kann? Das fragt sich auch Ronen Steinke, promovierter Jurist, Investigativ-Reporter der SZ und Autor. Er selbst lebt in Berlin und versucht diese Fragen mit jenen zu klären, die den Missstand zu verantworten haben. Eine Polizei, die Gefahren nicht abwehrt, sondern verwaltet, eine Justiz, die beschönigt und eine Gesellschaft, die wegsieht. Für sein Buch reist er quer durch Deutschland und trifft Rabiner*innen, Polizist*innen, Geheimdienstler*innen und Minister*innen und befragt sie diesem Versagen.

© Verbrecher Verlag

11
Judith Coffey, Vivien Laumann: "Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen"

Wenn uns in der deutschen Sprache Begriffe fehlen, müssen sie eben erfunden werden und in einer Gesellschaft, in der das Nichtjüdische als "Normalität" gedacht wird, bedarf es unbedingt neuer Begrifflichkeiten. So entwickeln Judith Coffey und Vivien Laumann "Goj", um den vermeintlichen Gegensatz zwischen "jüdisch" und "deutsch" aufzulösen. Mit dem Begriff "Gojnormativität" wollen sie, analog zu "Heteronormativität", diese nichtjüdische Norm als gesellschaftliche Struktur benennbar machen. Weihnachten ist dabei ein gutes Beispiel für Gojnormativität. Auch in Sachen Intersektionalität scheint die jüdische Perspektive selten mitgedacht zu sein. Damit sich das ändert, fordern die Autorinnen ein Umdenken im Sprechen über Antisemitismus, ein Mitdenken von Juden*Jüdinnen in intersektionalen Debatten und die Formierung solidarischer Bündnisse.

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