Zwischen Perfektion und Selbsthass: Die Grenzen der Selbstoptimierung

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"Noch 110 Kalorien, um dein Bewegungsziel zu erreichen. Du kannst es schaffen!", motiviert mich mein Handy ungefragt per Push-Benachrichtigung. Ich schaue auf die Uhr: 20.20 Uhr. Unwahrscheinlich, denke ich. Um sieben Uhr früh bin ich aufgestanden, hab geduscht, Kaffee getrunken und bin mit der Bahn eine Dreiviertelstunde zur Arbeit gefahren. Dort habe ich acht Stunden am Schreibtisch gesessen und bin danach die gleiche Strecke zurück nach Hause gefahren. Der Abstecher zum Supermarkt hat mir immerhin 80 verbrannte Kalorien eingebracht. Jetzt ist es 20.20 Uhr und ich bin am Ende.

Natürlich ist es meine eigene Schuld, dass mir mein Handy nach einem langen Arbeitstag ein schlechtes Gewissen macht. Erstens könnte ich die Push-Benachrichtigung deaktivieren und zweitens könnte es mir auch einfach egal sein. Ist es aber nicht. Denn als ich im Januar mein neues Leben in der 40-Stunden-Woche begonnen habe, habe ich mir fest vorgenommen, es ab nun besser zu machen als im Studium. Mehr Sport als Ausgleich zum Bürojob. Meal Prep für eine gesunde Ernährung. Und: kein Wein mehr unter der Woche. Tja – ratet mal, warum ich beim Supermarkt war.

Hü oder hott: Das Leben in Extremen

Ich bin übrigens nicht die Einzige, die zu wechselnden Anlässen dem Optimierungswahn verfällt. Ich habe eine Freundin, die seit einem halben Jahr keinen Schluck Alkohol getrunken hat, nicht mehr raucht und zudem gerade eine Fastenkur macht. Meinen Freund hingegen hat die Neujahrsmotivation schon Anfang Februar wieder verlassen, als er den Skyr mit Nüssen gegen eine Packung Chips getauscht hat. Ich hänge irgendwo dazwischen: Zwar ernähre ich mich überwiegend gesund und mache ein-, zweimal pro Woche Sport (sofern Yoga zählt). Aber 10.000 Schritte jeden Tag? Kein Wein vor Freitag, 18 Uhr? Zum Feierabend kluge Bücher statt "Desperate Housewives"? Keine Chance. Ich könnte vermutlich. Aber ich will nicht.

Ich bin einfach zu launisch für eine langfristige Selbstoptimierung.

Zumindest jetzt nicht. Denn Motivation verläuft bei mir in Phasen. Bei meinem Freund ist das auch so. Nur, dass seine Phasen wochenlang stringent sind, um dann in das komplette Gegenteil umzukippen. Sechs Wochen übermotivierte Sportskanone versus sechs Wochen muffliger Couchpotato. Immer im Wechsel. Ich hingegen kann morgens noch gut gelaunt laufen gehen und mir abends eine herzlose Frustpizza reinfahren. Ich bin einfach zu launisch für eine langfristige Selbstoptimierung. Wahrscheinlich ist das ein großes Glück.

Irgendwo zwischen Perfektion und Selbsthass

Ich will gar nicht zum hundertsten Mal den Selbstoptimierungswahn der Generation Y verteufeln. Wir mit unseren Pamela-Reif-Videos und Meditations-Apps und Supplements sind da wirklich nicht besser. Haben diese Phasen der Motivation aber nicht auch etwas Schönes? Ich mag es, wie sich die Stimme meines Freundes verändert, wenn er mir zum viertausendsten Mal erzählt, wie er sich zukünftig ernähren will. Ich freue mich, wenn meine Freundin stolz auf sich ist, weil sie sich für einen Kickbox-Kurs angemeldet hat. Und ich fühle mich gut, wenn ich nach einem langen Arbeitstag im Yogastudio bin, statt mit einem Eimer Schokoladeneis auf dem Sofa zu hängen.

Ich glaube, wir denken zu sehr in Extremen. Als gäbe es nur Perfektion oder den puren Selbsthass. Dabei überhören wir, was uns unsere Meditations-Apps und Yoga Teacher den ganzen Tag zu erklären versuchen: Das Ziel ist Ausgeglichenheit. Yin und Yang, heute mehr, morgen weniger. Mal genießen wir die Energie in der Phase der Motivation und mal füllen wir die Speicher wieder auf, indem wir faul auf dem Sofa hängen. Wir wissen selbst am besten, was uns nach einem stressigen Tag gut tut. Manchmal ist es die Yoga-Klasse, manchmal das Glas Wein. Ich finde es gut, dass mich mein Handy daran erinnert, mehr zu Fuß zu gehen. Es hat ja recht, Bewegung ist wichtig. Aber hey – der Weg zum Kühlschrank zählt auch.

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