Müßiggang ist aller Laster Anfang

© Insa Grüning

Freitagabend, 20 Uhr. Endlich Feierabend. Endlich zu Hause. Ab unter die Dusche. Zehn Minuten später sitze ich im Bademantel mit nassen Haaren auf dem Sofa und zünde mir eine Zigarette an. Mit dem ersten Zug beginnt mein Wochenende. Nachdem ich aufgeraucht habe, fällt mein Blick auf mein Handy. Auf dem Display fünf neue Nachrichten und drei Anrufe in Abwesenheit.

Fünf neue Nachrichten, drei Anrufe in Abwesenheit

Die erste Nachricht von Nadine: "Na Halllööööööchen! Kommst du heute Abend mit uns in die Bar? Sarah, Philip und Christian kommen auch mit und wir haben uns schon soooooo lange nicht mehr gesehen. Meld dich doch gleich mal. Bisous."

Die zweite Nachricht von Lena: "Hey Girl. Ich habe noch eine Konzertkarte für heute Abend übrig. Hast du spontan Lust? Müsste ich nur asap wissen."

Die dritte Nachricht von Tim: "Lass nachher mal teln, ich hätte Bock am Wochenende mal wieder einen drauf zu machen. Vlt vorher Späti-Bier?"

Die vierte Nachricht von Linda: "Wollen wir am Samstag oder Sonntag mal wieder eine Ausstellung anschauen? Ich würde mich freuen."

Und die fünfte von Bas: "Was geeeeeht denn heute?"

© Insa Grüning

An einem Freitagabend vor fünf Jahren hätte ich jetzt eine halbe Stunde am Telefon gehangen, mir nebenbei – in weiser Voraussicht, dass es gleich schnell gehen muss – die Nägel knallrot lackiert, ein partytaugliches Outfit zurechtgelegt und versucht, alle Optionen möglichst praktisch miteinander zu verbinden. Performen kann ich. Also erst aufs Konzert mit Lena, denn die Band soll echt super sein. Danach ab in die Bar mit Nadine und Co., Lena nehme ich mit. Später dann mit Tim treffen, in irgendeinem Club die Nacht zum Tag machen. Vielleicht hat Bas ja auch Lust auf die Gang? Und Linda hätte ich auf einen artsy Sonntag vertröstet, weil ich die Ausstellung natürlich auch auf keinen Fall verpassen und mitreden will.

Etliche Partys, Festivals und zwei Pandemiejahre später ertappe ich mich nicht nur freitagabends dabei, wie ich mein Handy immer öfter ignoriere. Mich einfach stumm stelle.

Etliche Partys, Festivals und zwei Pandemiejahre später ertappe ich mich nicht nur freitagabends dabei, wie ich mein Handy immer öfter ignoriere. Mich einfach stumm stelle. Nachrichten gar nicht oder erst am nächsten Morgen beantworte – nachdem ich am Abend zuvor selig um 21.30 Uhr im Bademantel auf dem Sofa eingeschlummert bin. Als mir das die ersten Male passiert ist, verspürte ich meinen Freund*innen, aber vor allem auch mir selbst gegenüber manchmal so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Ich habe mich schlecht gefühlt, weil ich spätestens am Montag dachte, am Wochenende nichts erlebt und naja, bestimmt auch etwas verpasst zu haben. Als urbane Großstädterin gehört es ja schließlich dazu, immer unterwegs und niemals müde zu sein.

No Fomo – Keine Angst mehr, etwas zu verpassen

Das Phänomen hat einen Namen und ist gerade unter jungen Leuten weit verbreitet – fear of missing out. Oder kurz Fomo. Die Angst also, etwas zu verpassen. Der Druck, immer irgendetwas tun, konsumieren und kommunizieren zu müssen. Ich weiß nicht, ob es an meinen inzwischen stolzen 35 Lebensjahren oder an der Pandemie, die eigentlich das erste Mal in meinem Leben aus allem ein bisschen das Tempo rausgenommen hat, liegt, aber ich habe immer weniger Angst, etwas zu verpassen. Da ist kein Neid, keine Panik und keine Angst mehr in mir, nur weil die anderen vielleicht ohne mich das nächste große Ding erleben. Versteht mich nicht falsch, ich sage immer: "Einige meiner schönsten Tage waren Nächte", aber man kann das Leben ja auch überstrapazieren.

© Insa Grüning

Ist meine Sturm-und-Drang-Zeit vorbei? Vielleicht. Ist das nur eine Phase oder ist das für immer? Keine Ahnung. Was ich weiß, ist, dass ich keine Lust mehr habe, meine Freizeit, die mir immer kostbarer wird, in Stress ausarten zu lassen – nur weil ich immer überall dabei sein will und nicht "Nein" sagen kann. Permanenter Freizeitstress fühlt sich an, als ob man nach der Arbeit einfach weiter arbeitet. Quasi Überstunden schrubbt. Das zu erkennen war sehr befreiend, denn mittlerweile bin viel besser darin, zu akzeptieren und zu sagen, dass ich gerade etwas anderes brauche. Ruhe.

Ich brauche nicht mehr jedes Wochenende ein bahnbrechendes Erlebnis, um mich zu spüren.

Ich brauche nicht mehr jedes Wochenende ein bahnbrechendes Erlebnis, um mich zu spüren. Was ich gerade lerne, nennt man hingegen Müßiggang. Gar nichts tun, oder Dinge tun, die überhaupt kein Ziel haben. Planlos sein, sich selbst zeitlich nicht zu kontrollieren. Eben einfach faul zu sein. Einfach im Garten rumliegen und den vorbeiziehenden Wolken hinterschauen zum Beispiel. Aber glaubt mir, das ist gerade jetzt, wo das Leben mit einem lauten Knall zurückgekehrt ist, manchmal gar nicht so leicht. Warum? Weil ich es nicht gelernt habe und wahrscheinlich auch, weil Faulsein und Nichtstun in unserer Gesellschaft keinen besonders hohen Stellenwert haben, sondern eher ziemlich verpönt ist.

Und weil das doch aber ziemlicher Quatsch ist, übe ich mich schon aus stillem Protest weiter in Müßiggang, den der Philosoph Alexander Prescott-Couch in der ZEIT neulich so passend als "Akt des Widerstands" beschrieben hat. Wenn ich mir für dieses Jahr überhaupt ein Zeil setze, dann ist es gerade nicht, das nächste große Ding erleben zu erleben oder all die Dinge, die ich in den letzten Jahren verpasst habe, nachzuholen, sondern einfach mehr im Hier und Jetzt zu sein. Auf einer Wiese zu liegen – so lange, bis ich müde werde. Es ist jetzt übrigens 20.30 Uhr, ich gehe gleich ins Bett. Einfach, weil ich's kann.

© Insa Grüning

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