Lesevergnügen #17: 11 lesenswerte Neuerscheinungen für den Frühling

© Wiebke Jann

Eigentlich steht in solchen Einleitungen ja immer, dass so viele neue Bücher erscheinen, dass man gar nicht die Zeit hat, sie alle zu lesen. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, wissen wir, dass das gerade nicht so ganz stimmt. Seht diese Liste deswegen als gutes Alternativprogramm zum abendlichen Bingewatchen der neuen Netflix-Serie oder dem morgendlichen Rumscrollen bei Instagram, denn natürlich erscheinen mindestens genauso viele geniale Bücher wie Serien. Und der Vorteil am Lesen: Wenn der Frühling richtig losgeht, könnt ihr das auch im Park tun.

In Juli Zehs "Über Menschen" begleiten wir eine dreißigjährige Großstädterin dabei, wie sie sich auf dem Land zwischen AfD-Wähler*innen und Corona-Kritiker*innen einlebt. Mit Benedict Wells durchleben wir das Erwachsenwerden mit allen Höhen und Tiefen mit einem 17-Jährigen in Missouri und Christian Kracht nimmt uns mit auf einen etwas anderen Roadtrip durch die eigene Familiengeschichte. Takis Würger hinterlässt mit seinem Buch "Noah" ein ganz beklemmendes Gefühl und Svenja Gräfen ruft uns zu mehr Selbstliebe und -fürsorge auf.

1. Takis Würger: "Noah – von einem, der überlebte"

In "Noah – von einem, der überlebte" erzählt Würger die Geschichte von Noah Klieger, der übrigens auch Co-Autor ist. Noah ist gerade mal 13 Jahre alt, als er in seiner Heimat Belgien beginnt, jüdischen Kindern bei der Flucht nach Frankreich zu helfen – und 17 Jahre, als er von deutschen Soldaten nach Auschwitz deportiert wird. Er erzählt, wie er sich als Boxer ausgab, um "mehr Suppe" zu bekommen. Wie er nackt im Schnee auf der Stelle läuft, um nicht zu erfrieren. Dass man den unmenschlichen Massenmord an rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden lapidar als "In den Kamin gehen" bezeichnete. Wie er mit Josef Mengele um sein Leben verhandelt und wie er gemeinsam mit über 4.000 Jüdinnen und Juden versucht, mit dem Schiff "Warfield" in seine Heimat Israel zu gelangen. Diese Seiten zu lesen, macht einen tieftraurig und beschämt. Es ist ganz und gar schwer zu ertragen, dennoch dürfen wir diese Geschichten niemals vergessen, wir dürfen niemals aufhören, sie zu erzählen, denn nur so können wir uns daran erinnern, dass wir alles tun müssen, um so etwas in Zukunft zu verhindern.

Erschienen im Penguin Verlag | 188 Seiten | Mehr Info

© Penguin Verlag | © Korbinian Verlag

2. Nele Stuhler: "Keine Ahnung"

"Wenn man sich die Dinge genau anguckt, [...] sieht man doch, woraus die Menschen und die Tiere und die Pflanzen und die Dinge und alles, was es gibt, zusammengesetzt sind: Aus Widerspruch." Nele Stuhler widmet dem Nicht-Wissen in ihrem Buch "Keine Ahnung" sechs Akte. Jeder Akt besteht aus einer Lesung, in denen Stuhler sich nicht nur antiker Denker*innen und der frühen Zivilisation bedient, sondern auch selbst Erlebtem – ihnen allen steht das große Thema der Ahnungslosigkeit über. Sie nimmt die Lesenden mit auf eine Reise in ihre eigene Wahrnehmungswelt, in der man sich via Google unendlich viel Wissen aus Religion und Geschichte aneignen kann. Es geht um die Verletzung, die man als Frau erlebt, wenn man in einer nicht feministischen, also nicht wirklich gleichberechtigten Gesellschaft lebt, wie man mit der eigenen Familie umgeht und wie mit dem eigenen Geist. Das Buch liest sich ein bisschen, als hätte sich der Handlungsstrang ein Beispiel an den vielen Hirnwindungen genommen, die es zum Schreiben bedurfte, ist dabei aber dennoch tiefgründig, herausfordernd und nun ja, auch ein bisschen chaotisch.

Erschienen im Korbinian Verlag | 213 Seiten | Mehr Info

3. Shida Bazyar: "Drei Kameradinnen"

Hani, Kasih und Saya kennen sich schon seit ihrer Kindheit, sie sind gemeinsam in derselben Siedlung aufgewachsen. Nach Jahren beschließen die drei Freundinnen, für ein paar Tage wieder an die alten Zeiten anzuknüpfen und wieder gemeinsam um die Häuser zu ziehen, auf Dächern abzuhängen, beim Späti Drinks zu kaufen und durch den Kiez zu schlendern. Alles scheint normal, bis ein dramatisches Ereignis alles in Frage stellt. "Drei Kameradinnen" erzählt von der Frage nach Herkunft, Zugehörigkeit und von Alltagsrassismus. Davon, wie sich das anfühlt, wenn einen täglich Blicke unter Generalverdacht stellen, wenn rechte Anfeindungen Alltag sind und wenn man immer wieder zu spüren bekommt, dass man vielleicht geduldet ist, aber noch lange nicht dazugehört. Was hilft? In dieser Geschichte ist es bedingungslose Liebe und Vertrauen zwischen Freundinnen.

Erschienen im KiWi Verlag | 352 Seiten | Mehr Info

© KiWi Verlag | © Diogenes Verlag

4. Benedict Wells: "Hard Land"

Sam ist 15 Jahre alt, lebt in den 1980er Jahren in einer Kleinstadt in Missouri mit seiner schwer kranken Mutter und seinem emotionslosen Vater. Freund*innen hat Sam keine, dafür aber sehr viele Ängste – bis er im Sommer 1985 einen Ferienjob im Kino annimmt. "Hard Land" liest sich wie die Essenz aller von Wells bisher geschriebenen Bücher. Es erzählt vom Ende der Einsamkeit. Vom Ende des Außenseitertums. Von einem letzten gemeinsamen Sommer. Von dem Schmerz, von den eigenen Eltern nicht geliebt zu werden oder sie zu verlieren. Von Freundschaften und erster Liebe. Von Mut und Ängsten. Wells schafft mit Worten, was andere nicht einmal mit Bewegtbild hinbekommen: eine Geschichte so nah und unmittelbar zu erzählen, dass man als Lesende*r jede Emotion spüren und erleben kann. Dieses Buch zu lesen, fühlte sich für mich an, als hätte ich ein vierstündiges Drama von Lars von Trier gesehen und definitiv (zu) viel gefühlt.

Erschienen im Diogenes Verlag | 352 Seiten | Mehr Info

5. Christian Kracht: "Eurotrash"

25 Jahre ist es her, dass Christian Kracht seinen Erfolgsroman "Faserland" veröffentlicht hat. In seinem neuen Roman "Eurotrash" lässt er denselben Ich-Erzähler wieder aufleben. Gealtert, nicht weniger frustriert, ekelhaft neureich, mittelarrogant und seltsam ist er noch heute. Dieses Mal begleiten wir ihn allerdings auf einer Reise, die nicht nur in die tiefen Abgründe der deutschsprachigen Gesellschaft blicken lässt, sondern auch gleichzeitig am eigenen Familiendrama erzählt wird. Die Rede ist von einem Vater, der immer wahnsinnig darauf bedacht war, jemand zu sein, gesellschaftlich relevant zu sein, und einer Mutter, die mit Nazieltern aufwuchs, das Nazi-Erbe in sich trägt und alle Sorgen um Krankheit in Alkohol ertränkt. Mit dieser Mutter macht der Ich-Erzähler eine Reise durch die Schweiz, immer darauf bedacht, die Vergangenheit einzufangen, mit der Gegenwart abzugleichen und irgendwie auf eine halbwegs okaye Zukunft zuzusteuern – und das beschreibt Kracht in einem so bitterbösen, sarkastischen Ton, dass man fast schon Mitleid mit den Protagonist*innen bekommt.

Erschienen im KiWi Verlag | 224 Seiten | Mehr Info

© KiWi Verlag | © Diogenes Verlag

6. Doris Dörrie: "Einladung zum Schreiben"

Doris Dörrie ist einfach cool. Sie glaubt fest daran, dass jede*r von uns schreiben kann. Und deswegen wird sie auch nicht müde, uns nach ihrem Buch "Leben, schreiben, atmen" auch weiterhin Tipps und Ratschläge an die Hand zu geben, wie wir besser schreiben lernen. Dieses Mal ermutigt sie ihre Leser*innen dazu, in die eigenen Geschichten einzutauchen, das eigene Leben und seine Widersprüche zu hinterfragen, anzunehmen und darüber zu schreiben. Wie schreibt man über Schicksalsschläge, Verletzungen, Verlust? Wie über Banales wie unser Bett, Brillen, Wanderungen oder Löwenzahn? Dörrie schafft es, uns all das in ihrem Schreibjournal näherzubringen.

Erschienen im Diogenes Verlag | 224 Seiten | Mehr Info

7. Juli Zeh: "Über Menschen"

Juli Zeh ist eine großartige Beobachterin unserer Gesellschaft. Sie studiert die feinen Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land und in der Stadt, porträtiert die Bewohner*innen verschiedener Orte und lässt uns als Leser*innen an ihren teilweise bissigen Entdeckungen teilhaben. In ihrem neuen Buch "Über Menschen" greift sie das inzwischen seit über einem Jahr aktuelle Thema des Lockdowns auf und erzählt die Geschichte eines stereotypen Kreuzberger Pärchens. Doro und Robert sind Mitte 30, leben auf 80 Quadratmetern, lassen den Feierabend bei einem Glas Rotwein ausklingen und Doro hängt sogar einen lukrativen Job an den Nagel, um für eine nachhaltige Agentur zu arbeiten. Robert allerdings reicht das nicht. Er fantasiert von der Apokalypse und brennt für Fridays for Future. Irgendwann reicht es Doro, sie haut mit ihrem erhobenen Achtsamkeitszeigefinger ab aus der Großstadt und zieht aufs Land, wo sie kürzlich ein Häuschen gekauft hat. Mitten in dieser braunen Suppe – im fiktiven Dorf Bracke in Prignitz –, in der jede*r dritte AfD wählt oder sehr Corona-kritisch ist, nimmt der Roman eine interessante Wendung.

Erschienen im Luchterhand Verlag | 416 Seiten | Mehr Info

© Luchterhand Verlag | © KiWi Verlag

8. Klaus Modick: "Fahrtwind"

Wenn Klaus Modicks Ich-Erzähler in "Fahrtwind" eines sicher nicht ist, dann ein Overperformer. Statt vor der Gesellschaft und ihrem Druck und Streben nach Erfolg zu buckeln, steigt er lieber aus den Zwängen aus – und in das nächste vorbeifahrende Auto ein. Das ist der Beginn eines wunderbaren Roadtrips, der im Deutschland der 1970er Jahre startet und uns unter anderem mit nach Wien und in die Toskana nimmt. Wir treffen auf seltsame Vögel, zwielichtige Gestalten, sympathische Hippies im Batik-Shirt, hoffnungsvolle Romantiker*innen und sympathische Alt-Rocker*innen. Immer im Gepäck: der perfekte Soundtrack. Ein Roadtrip in Buchform. Wenn ihr euch darauf einlasst, könnt ihr beim Lesen vielleicht sogar den Wind in euren Haaren spüren und eine Mischung aus Gras und Räucherstäbchen riechen.

Erschienen im KiWi Verlag | 208 Seiten | Mehr Info

9. Timon Karl Kayeta: "Die Geschichte eines einfachen Mannes"

Musiker, Kolumnist in der FAS, Drehbuchautor bei jerks. und jetzt auch noch Buchautor: Timon Karl Kayeta veröffentlicht seinen Debütroman "Die Geschichte eines einfachen Mannes" und erzählt damit halb-autobiographisch die Geschichte eines jungen Mannes, dem alles zuzufliegen scheint – zumindest denkt er das. Er wird als Musiker fast berühmt. Er findet fast die große Liebe. Es hätte beinahe für eine akademische Karriere gereicht. Leben auf der Überholspur, aber leider nur im Konjunktiv. Sein Buch ist mindestens genauso aufdringlich, unverschämt, laut, unangenehm und irgendwie gut wie die Musik seiner Band Susanne Blech. Samira El Ouassil schreibt: "Eine anmutige Frechheit über unsere Klassengesellschaft" – da können wir uns nur anschließen.

Erschienen im Piper Verlag | 320 Seiten | Mehr Info

© Piper Verlag | © Eden Books

10. Svenja Gräfen: "Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!"

Ein besseres Timing hätte Svenja Gräfen mit diesem Buch kaum haben können, denn wenn etwas gerade wichtig ist – und das merken einige von uns schmerzlich – dann ist es, sich um sich selbst zu kümmern. Dafür zu sorgen, dass es einem gut geht. Dass die eigenen Bedürfnisse gehört und berücksichtigt werden. Die Autorin hielt solche Gedanken lange für egoistisch und eine perfide Marketingstrategie der Beauty-Industrie. Doch es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man sich mit sich selbst auseinandersetzt und um das eigene Ich kümmert, oder ob das eigene Ich ohne Rücksicht auf andere immer an erster Stelle steht. In ihrem Buch erzählt Gräfen von Strategien und Erfahrungen, wie man mehr Self-Care betreiben kann, warum das gerade in dieser Zeit verdammt wichtig ist und wieso Self-Care und Feminismus ziemlich gut zusammenpassen.

Erschienen bei Eden Books | 200 Seiten | Mehr Info

11. Marie Hesse und Karin Labhart (hrsg.): "Fahrt ins Blaue"

Urlaub. Rausfahren. Was anderes sehen. Was erleben. Die meisten von uns kennen das wohl eher aus vergangenen Tagen und vermissen es vermutlich schmerzlich. Mit dem neuen Geschichtsband, den Marie Hesse und Karin Labhart herausgeben, könnt ihr große und kleine Abenteuer erleben. Verschiedene Autor*innen wie Arnon Grünberg, Monika Helfer, Peter Stamm, Lily Brett oder Alfred Andersch erzählen nämlich Reisegeschichten. Zelten im hohen Norden, mit dem Camper durchs Land oder doch lieber mit dem Rad? Bier ausschenken im Speisewagen? Literarische Ecken in Berlin entdecken? Für alle, die sich, genauso wie wir, nach Urlaub, Abenteuer und Reisen sehnen, ist dieses Buch geschrieben worden. Tipp: Bestellt das Buch jetzt schon mal vor, bis es im Mai rauskommt, ist es warm und dann solltet ihr es mit einem kühlen Drink auf dem Balkon oder im Park lesen – das fühlt sich dann auch ein bisschen nach Urlaub an.

Erscheint am 26. Mai im Diogenes Verlag | 272 Seiten | Mehr Info 

© Diogenes Verlag
Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
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