Berlin ist uncool geworden – und das ist verdammt cool!

© Med Mhamdi | Unsplash

Inzwischen liegt der zweite Corona-Sommer hinter uns. Auch wenn es im Frühling und nach einer heftigen dritten Welle nicht danach aussah, haben die vergangenen Monate sich doch erstaunlicherweise normal angefühlt. Man konnte wieder in Restaurants essen und auf einen Absacker in der Bar um die Ecke vorbeischauen, die Biergärten waren so gut besucht wie nie und die ersten Konzerte und Festivals unter freiem Himmel sind über die Bühne gegangen. Alles noch ein bisschen provisorisch mit viel Testen, Abstand und Maske, aber hey – besser als nichts.

Bei mir ist es noch gar nicht so lange her, dass ich mit einer Freundin seit Ewigkeiten das erste Mal wieder gefeiert habe. Also so richtig. Mit allem Drum und Dran. Schon tagsüber, gut drauf, inmitten von Menschentrauben an der Bar, dicht gedrängt, tanzend und kreischend auf einer kleinen Tanzfläche vor dem DJ-Pult. Hat es eigentlich je etwas Ehrlicheres gegeben, als zu trashiger 80ies-Disco-Mucke zusammen abzufeiern? 

Das einzige, was an diesem Tag gefehlt hat, waren die Cool Kids. Ihr wisst schon, die, die schlecht gelaunt hinten an der Bar stehen. Die, die sonst nur wegen des Headliners am Abend da waren – und bis dahin höchstens eine genervte Miene verziehen. Aber diese "To cool for school"-Typen habe ich diesmal weit und breit nicht gesehen. Oder sie standen mit uns auf der Tanzfläche. Man weiß es nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann wir das letzte Mal Arm in Arm mit wildfremden Menschen lauthals und inbrünstig zu einem "It's my life"-Remix von Talk Talk mitgefiebert haben.

Hauptsache raus unter Leute

"Boah, wie krass hier grad wirklich alle abgehen?", brülle ich der hüpfenden Freundin neben mir ins Ohr.

"Ja,…einfach nur Wahnsinn", antwortet sie happy.

Ich lache berauscht zurück.

"Ich hab’ richtig Bock, dabei weiß ich nicht mal, wer da gerade auflegt. Kennst du die?", fragt sie mich.

"Puh, nö. Ist mir ehrlich gesagt auch egal. Das tut grad einfach nur gut ey."

"It's my LIFEEEEE.....!!!", schreien wir im Pulk weiter.

"Besser als nichts", das kam mir in den vergangenen Wochen öfter in den Sinn. Mir scheint, als hätten nicht nur meine Freundin und ich, sondern selbst die sonst so super coole und immer sehr wählerische Berliner Party-Crowd ihre Ansprüche ein wenig heruntergeschraubt. Nach dem Motto: Hauptsache man kommt mal wieder raus unter Leute. Hauptsache mal wieder tanzen. Hauptsache mal wieder feiern.

Das Berliner Nachtleben war ja lange Zeit auch von einem gewissen Druck und der Angst, etwas zu verpassen, geprägt. FOMO beschreibt dieses neuzeitliche Phänomen ziemlich gut. Wichtigstes Etappenziel erprobter Partygänger*innen am Ende eines Wochenendes: Unbedingt auf der angesagtesten Party der Stadt zu landen, über die am Montag noch gesprochen – und auf der vielleicht sogar noch getanzt wird. Drei Tage durchfeiern, das war der Inbegriff von Berliner Coolness.

Der Inbegriff von Berliner Coolness

"Berghain wie immer heute Abend! Wer kann Gästeliste klar machen?" Dann wurden hektisch sämtliche Kontakte aquiriert: "Kann man da für heute noch was machen für vier? Nee...echt nicht?". Latente Panik machte sich breit. Klappte das mit der Gästeliste mal nicht, war die bereits angeheiterte Stimmung nach den ersten Drinks ruckzuck im Keller. Und wer bitte stellt sich nachts um drei – früher verließ man ja auf keinen Fall das Haus – noch gern stundenlang in die Schlange des legendärsten Clubs der Stadt, um im worst case nicht reinzukommen? Wäre ja peinlich.

Mein Gefühl ist: Die Leute haben keine Lust mehr auf Stimmungsdrücker, sondern freuen sich einfach nur darüber, dass überhaupt was ist. Überall in der Stadt entstehen gerade neue Orte zum Feiern und Formen der Zusammenkünfte, bei denen man das Gefühl hat, das könnte richtig gut werden. Und ja, Menschen stellen sich tatsächlich auch wieder sieben Stunden in die Clubschlange (wie am Eröffnungswochenende des Berghains), nur um dabei zu sein.

Dasselbe höre ich auch von Bekannten, die auf Konzerten waren oder von Musiker*innen, die von ihren ersten Gigs nach dem Lockdown erzählen. Die Stimmung sei anders als vorher: unbeschwerter, ausgelassener, geerdeter. Irgendwie so, als ob Berlin sich im ersten Partysommer nach Corona gerade neu erfinden würde.

Berghain
© Wiebke Jann
Mal angenommen, wir geben ein Stück der Berliner Coolness auf, als letzte auf irgendeiner Party aufzutauchen, weil man sich so sehr danach sehnt, überhaupt dabei zu sein. Das wäre doch ziemlich cool, oder?

Mal angenommen, wir treffen uns ab jetzt öfter schon um 21 Uhr abends und nicht erst um zwölf Uhr nachts. Mal angenommen, wir stehen demnächst weiterhin schon um Mitternacht auf der Tanzfläche und nicht erst um vier Uhr in der Früh. Mal angenommen, wir geben ein Stück der Berliner Coolness auf, als letzte auf irgendeiner Party aufzutauchen, weil wir uns einfach so sehr danach sehnen, überhaupt dabei zu sein. Mal angenommen, dieser in den letzten Monaten wahr gewordene Wunsch würde einfach weiter Realität bleiben. Das wäre doch ziemlich cool, oder?

Vielleicht hat Corona ein Stück weit den Druck aus dieser ganzen Partysache, aus der FOMO genommen. Vielleicht sind die Erwartungen an alles nicht mehr so hoch – und vielleicht ist es genau das, was Berlin dringend gebraucht hat. Mal wieder ein bisschen runterkommen.

Berlin ist vielleicht uncool geworden. Aber ich finde, das ist verdammt cool.

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