"Ich wollte gar nicht so lange feiern!" – Hört endlich auf, euch für euren Exzess zu entschuldigen

© chris benson I unsplash

“Eigentlich wollte ich gar nicht so viel trinken.”, so startet gefühlt jede zweite Geschichte über das letzte Wochenende. Dann folgen die geilen Details über den Abend. “Aber eigentlich war das alles überhaupt nicht geplant. Ich feiere auch nur noch ganz selten. Und der Kater am nächsten Tag war abartig. Und dann ist ja auch immer das Wochenende im Arsch, dabei wollten wir eigentlich nur ein bisschen ausgehen. Es konnte ja keiner ahnen, dass es wieder so eskaliert.” Beliebt ist es auch, bereits vor dem Feiern zu beteuern, dass man hofft, es werde bloß nicht wieder so ausarten. Nicht so wie beim letzten Mal. Und dann passiert natürlich genau das.

War das früher nicht noch ganz anders? Ich erinnere mich daran, dass Menschen für den größten Kater den meisten Respekt bekamen, diejenigen, die am krassesten gefeiert haben und morgens nicht mehr wussten, wo sie waren oder wie sie dort hingekommen sind. Wenn sich dann noch eine nackte Person im selben Bett befand, von der man nicht mal mehr den Namen wusste, hatte man die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Clique sicher.

Heute brauchen wir ein bisschen Reue, um von unseren Eskapaden zu berichten

Jetzt sind wir erwachsen geworden – ob wir wollten oder nicht. Sind wir doch mal ehrlich, der Selbstoptimierungstrend macht vor niemandem Halt. Ein bisschen gesunde Ernährung hier, ein bisschen Sport dort. Dazu ein Fitness-Armband und eine Meditations-App. Mit dem Erwachsenwerden hat sich auch die Art, wie wir von unseren durchfeierten Nächten erzählen, verändert.

Wir können nicht mehr einfach nur erzählen, dass wir hart gefeiert haben. Die meisten von uns stellen dabei direkt klar, dass sie das “eigentlich ja nur noch ganz selten machen und es auch überhaupt nicht geplant war”. Es kommt mir vor, als sei Reue die neue Bescheidenheit. Wir müssen zumindest so tun, als ob wir es ein bisschen bereuen. Sei es, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Sei es, um den Anschein zu wahren, dass wir unser Leben im Griff haben.

Wir müssen zumindest so tun, als ob wir es ein bisschen bereuen. Sei es, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Sei es, um den Anschein zu wahren, dass wir unser Leben im Griff haben.

Was mich daran nervt, ist das Kokettieren

Aber warum eigentlich? Es ist doch unsere Sache und auch unser gutes Recht, das zu tun, was wir wollen. Warum zweifeln wir unsere eigene Entscheidungsfähigkeit und unsere eigene Willenskraft an? Denn im Grunde ist es genau das: Wenn wir doch eigentlich gar nicht feiern wollten, haben wir etwas getan, wofür wir uns nicht bewusst entschieden haben. Ist das nicht sogar auch ein klein wenig traurig?

Je stärker wir betonen, dass der Abend im Grunde ganz anders geplant war, desto mehr feiern wir uns für unsere Spontanität und Flexibilität. Andererseits macht uns diese “Schwäche” menschlich und verbindet uns, weil wir alle mal "dumme" Entscheidungen getroffen haben. (Ich möchte damit nicht in Frage stellen, dass Feiern gehen seine Berechtigung hat. Davon bin ich im Gegenteil sehr überzeugt.)

Merkwürdige Doppelmoral

Wer echte Reue verspürt nach einer durchfeierten Nacht, wird es wohl kaum beim nächsten Wochenende wieder so hart übertreiben. Die “Fake”- oder “Feier”-Reue hat demnach eine andere Funktion für uns. Wir spielen bewusst mit den gesellschaftlichen Erwartungen, vernünftig und erwachsen zu sein, die wir uns selbst auferlegt haben. So können wir betonen, dass wir noch nicht richtig erwachsen und nicht immer nur vernünftig sind. Denn es ist ja ein sehr schmaler Grat zwischen langweilig, brav, unflexibel zu sein – wir sind doch keine Spießer! – und dem zügellosen Übertreiben, das sich nicht gehört und als ungeniert wahrgenommen wird. Eine merkwürdige Doppelmoral.

Vielleicht brauchen wir aber genau diese Doppelmoral, um unserem Doppelstandard gerecht werden zu können. Sonst gibt es ja nach dem Wochenende und im tristen Büroalltag nichts zu erzählen. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Und mit dem angemessen roten Kopf.

Reue ist ein fragwürdiges Konzept

Ich will versuchen, so zu leben, dass ich nichts bereuen muss. Ich treffe nicht immer nur gute Entscheidungen, aber auch zu den "schlechten" kann ich stehen. Reue ist doch ein beschissenes Gefühl. Wenn man in einem Moment eine Entscheidung getroffen hat, hatte sie zu diesem Zeitpunkt ihre Berechtigung. Will man denn wirklich all seine vergangenen Ichs in Frage stellen?

Natürlich kann es interessant und auch wichtig sein, sich damit auseinander zu setzen, warum man diese Entscheidung getroffen hat und keine andere. Denn nicht alle waren immer besonders clever. Aber sich dafür zu geißeln, wird einem nichts bringen. Viel eher sollte man die "Scherben" (oder das verkaterte Ich der vergangenen Nacht) aufsammeln und für das nächste mal dazu lernen. Für mich ist Reue darum ein fragwürdiges Konzept.

Sind wir mal ehrlich: Legendäre Abende sind nicht die, an denen man zu allem Nein sagt. Doch was spricht dagegen, eine Entscheidung zu treffen und dazu zu stehen? Bei allem erwachsen und vernünftig sein, dürfen wir uns auch Auszeiten in vollen Zügen gönnen. Völlig ohne falsche Reue.

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