Arztpraxis, Suppenküche und Kleiderkammer in einem – Zu Besuch in der Jenny De la Torre Stiftung für Obdachlose

© Debora Ruppert

Seit Anfang des Jahres sind drei obdachlose Menschen auf den Straßen Berlins verstorben. Unabhängig davon in welchem Kiez man unterwegs ist, begegnet einem die Not in Berlin überall. Im wohlhabenden Prenzlauer Berg, im hippen Neukölln, aber auch in den Randbezirken wie z.B. in Köpenick.

Die Zahl der Menschen, die auf den Straßen Berlins leben, ist in den letzten Jahren stetig angestiegen. Schätzungen gehen von ca. 40.000 wohnungslosen Menschen aus, die in Wohnheimen oder bei Freunden und Bekannten untergebracht sind. Circa 8000 bis 10.000 Menschen sind obdachlos und leben direkt auf der Straße. Sie übernachten in Hauseingängen, U-Bahnhöfen und auf Parkbänken.

„Wenn ich erwachsen bin, werde ich Ärztin und behandle bedürftige Menschen kostenlos."

Ich bin heute zu Besuch im Gesundheitszentrum für Obdachlose der Jenny De la Torre Stiftung in Berlin Mitte. Das Zentrum liegt in der Nähe des Nordbahnhofes. Jenny De la Torre ist Ärztin und Gründerin der Stiftung. Sie ist in Peru geboren und hat in ihrer Kindheit erlebt, dass Menschen aus finanziellen Gründen nicht zum Arzt gehen konnten. Damals hatte sie den Kindheitstraum: „Wenn ich erwachsen bin, werde ich Ärztin und behandle bedürftige Menschen kostenlos."

Dieser Traum hat sich für sie in Peru nicht erfüllt. Aber zu Zeiten der DDR hat sie die Ausbildung zur Fachärztin für Kinderchirurgie an der Charité absolviert und bekam nach dem Fall der Mauer, das Angebot in Berlin als Ärztin mit Obdachlosen zu arbeiten.

© Debora Ruppert
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Damals habe ich am Ostbahnhof gearbeitet und ich hätte nie gedacht solche Krankheitsbilder und solch eine Verwahrlosung in Deutschland zu sehen.
Jenny De la Torre

Jenny De la Torre gibt mir eine Tour durch das mehrstöckige Haus. Wir beginnen in der großen und gut sortierten Kleiderkammer. Bis Größe 46 haben sie Männerschuhe da. „Manchmal gibt es welche in Schuhgröße 51, das ist dann wie Goldstaub.", berichtet sie mir. Die Kleidung bekommen sie durch Spenden von Privatpersonen, aber auch durch Firmen und Haushaltsauflösungen. Falls ihr gut erhaltene Kleidung habt, könnt ihr sie gerne hier vorbeibringen.

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Von hier aus geht es weiter in die Küche, wo Heinz, der Koch, gerade das frisch gekochte Mittagessen ausgibt. Hier lerne ich auch Lilly kennen, die momentan ein dreiwöchiges Schülerpraktikum absolviert. Lilly ist 16 Jahre alt und in der 11. Klasse. Ihr Traum ist es, Medizin zu studieren. Hier vor Ort unterstützt sie den Koch zwei Wochen in der Küche und hat eine Woche die Möglichkeit, die De la Torre in ihrer medizinischen Praxis zu begleiten.

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Etliche, die hier herkommen, sind noch so jung. Hier bekommen sie nicht nur ein warmes Essen, sondern es wird versucht, ihnen langfristig zu helfen. Das finde ich gut! Ich glaube, einige können noch den Weg aus der Obdachlosigkeit herausfinden. Das wünsche ich mir für sie!
Praktikantin Lilly

Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich die Arztpraxis mit den verschiedenen Behandlungszimmern. Die Praktikantin Peggy macht an der Charité eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. „In der Charité ist man regelmäßig mit obdachlosen Menschen konfrontiert. Mich haben die Hintergründe interessiert, deshalb habe ich mich entschieden, mein vierwöchiges Praktikum hier zu machen. Ich habe wirklich viel gelernt, was ich in meiner Arbeit an der Charité anwenden kann. Ich denke jeder im Krankenhaus, egal ob Arzt oder Krankenpfleger, sollte einmal ein Praktikum in einer obdachlosen Einrichtung absolvieren."

Ich begleite Jenny De la Torre in ihre Praxis und lerne dort ihren Kollegen Guido kennen. „Medikamente, Antibiotika etc. bestellen wir direkt bei den Apotheken und finanzieren dies über Spendengelder.", erzählt er mir. „Im Schnitt kommen pro Tag ca. 10 bis 15 Patienten zu uns.", berichtet De la Torre. „Manche Patienten kenne ich schon seit Jahren. Dann ist es eine große Freude, wenn jemand irgendwann den Schritt aus der Obdachlosigkeit heraus schafft. Vor Weihnachten ist einer meiner Patienten in eine eigene Wohnung gezogen. Wir haben uns alle sehr gefreut."

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Medizinische Versorgung, Rechtsberatung und soziale Betreuung in einem

Zu meiner Überraschung gibt es inmitten von Jenny De la Torres Behandlungszimmer ein kleines provisorisches Fotostudio. „Ein typisches Problem auf der Straße ist, dass Menschen keinen Ausweis mehr haben. Er wurde ihnen geklaut oder sie haben ihn verloren. Ohne Ausweis kann man jedoch kein Hartz 4, Rente oder Ähnliches beantragen. Deshalb ist der erste Schritt, dass man einen Ausweis beantragt. Was sich einfach anhört, ist aber doch sehr komplex für obdachlose Menschen. Du musst biometrische Passfotos machen, dazu brauchst du Geld, dann musst Du wissen, bei welchem Amt du den Personalausweis beantragst. Die Beantragung kostet ebenfalls wieder Geld."

Die Ärztin war hier sehr kreativ. Sie hat selbst ein kleines, provisorisches Fotostudio in ihrem Arztzimmer aufgebaut. Hier erstellt sie Passfotos für ihre Patienten. Die Patienten müssen sich dann eine Meldeadresse besorgen und der Sozialarbeiter im Haus stellt dann eine Bescheinigung der Mittellosigkeit aus und begleitet, bei Bedarf, die Patienten aufs Amt. Das ist der erste Schritt hin zu einem vorläufigen Ausweis, mit dem man dann beispielsweise ein Antrag auf Sozialhilfe, Rente etc. stellen kann. Diese simple und super effektive Lösung hat mich wirklich beeindruckt.

Alle Ärzte arbeiten hier ehrenamtlich. Etliche von ihnen sind bereits pensioniert. Mehrmals die Woche bieten Zahnärzte eine Sprechstunde an. Es gibt einen Internisten, einen Dermatologen, einen Augenarzt und zwei Orthopäden. „Während ich mit obdachlosen Menschen am Ostbahnhof arbeitete, stellte ich fest, dass, wenn man sie zu einem Facharzt schickt, sie dort meistens gar nicht ankommen. Aufgrund dessen ist in mir die Vision gewachsen, ein Haus zu haben, in dem Ärzte verschiedener Fachrichtungen inklusive Sozialarbeitern, Rechts- und Suchtberatern unter einem Dach arbeiten, damit niemand auf dem Weg verloren geht."

Manchmal kommen Menschen zu uns, deren Kleidung voller Blut und Eiter ist. Sie haben Krätze und manchmal ist die Kleidung angewachsen. Manche können sich selbst nicht mehr waschen. Dann schneiden wir sie aus ihrer Kleidung und waschen sie hier im Sitzen.
Jenny De la Torre

„Obdachlose Menschen suchen oftmals ein Ort, an dem sie einfach sein können, ohne vertrieben zu werden." Hier im Haus gibt es das Angebot von medizinischer Versorgung, Rechtsberatung und sozialer Betreuung, außerdem können die Menschen hier essen, aber auch einfach sein, Fernsehen, Radio hören, ein Buch lesen – manche schlafen in einer dieser sicheren Atmosphäre aber auch direkt ein.

„Obdachlose Menschen haben ein ökonomisches, ein gesundheitliches, ein psychologisches, ein rechtliches und ein soziales Problem.", sagt Jenny De la Torre, Es ist so vielschichtig und komplex, dass sie alleine damit nicht mehr zurechtkommen. Man muss versuchen zu verhindern, dass Obdachlosigkeit zu einer Langzeitobdachlosigkeit führt. Das Wichtigste ist, die Menschen auf einem Weg weg von der Straße zu begleiten. Das ist das Gesündeste, Ökonomischste und Menschlichste was man tun kann."

© Debora Ruppert
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