Wer wohnt denn hier? – Warum es in Berlin noch immer so viele Niemandsländer gibt
Wenn ich mich durch die Stadt bewege, beschleicht mich regelmäßig ein Gefühl der Irritation. Das passiert immer dann, wenn ich meine gewohnte Umgebung verlasse und auf dem Weg zum angepeilten Ziel Straßen durchquere, die sich partout nicht einordnen lassen wollen. Diese Ungewissheit endet erst dann, wenn ich wieder einen Kiez betrete, dessen Häuser, Restaurants und Läden mir vertraut erscheinen, der sich klar von seiner Umgebung abgrenzen lässt und der mir im besten Fall wie ein zweites Wohnzimmer vorkommt.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber im Alltag durchquere ich fast täglich Berlins blinde Flecken. Damit meine ich Häuserblocks, Straßen, ja manchmal sogar ganze Kieze, die zwar geografisch klar lokalisierbar sind, die aber zugleich irgendwie Niemandsland sind, eine gesichtslose Aneinanderreihung von immer gleich aussehenden Häusern und Geschäften, Cafés und Restaurants, die nur so vorbeifliegen, die ich nicht wirklich wahrnehme und die von mir auch gar nicht so recht wahrgenommen werden wollen. Irgendwie sind mir diese toten Ecken, die sich im Hauptstadt-Kiez-Flickenteppich zwischen offenem Schwulenviertel und saturiertem Schwabenglück einfach nicht integrieren wollen, ziemlich suspekt.
Die toten Winkel lauern überall: an den Bezirksgrenzen, zwischen Szenekiezen und sogar mitten im Stadtzentrum
Ein typisches Niemandsland findet sich zwischen dem Brunnenviertel und dem Volkspark Humboldthain entlang der Gustav-Meyer-Straße: Hier sind die Straßen breit, mit parkenden Autos gespickt, ansonsten aber menschenleer. Die wenigen Häuser in der Umgebung sind grau und trist, Geschäfte und Restaurants quasi nicht existent.
Blindfleckig ist auch die Heinrich-Heine-Straße. Jeder, der schon einmal von der Partyecke am U-Bahnhof zum Moritz- oder Oranienplatz spaziert ist, fühlt sich merkwürdig zerrissen an dieser Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg. Die Plattenbauten machen es nicht besser, stehen sie doch in einem eigenwilligen Kontrast zur Weite der Straße und den großzügigen (wenngleich völlig unsinnigen) Grünflächen, die man sonst nicht aus der Innenstadt kennt.
Plattenbauten dominieren auch das Gebiet rund um den Ostbahnhof, einem typischen Umsteigepunkt, der sich – insofern man doch mal seinen Anschlusszug verpasst hat oder in der Nacht dort strandet – als recht steril entpuppt. Mindestens genauso monoton ist der Übergang von Kreuzberg zum Potsdamer Platz entlang der Gitschiner Straße. Häuser reihen sich aneinander, die U-Bahn brettert im Minutentakt über die Hochtrasse, nur Leben ist nirgends zu entdecken. Ich könnte jetzt mit endlosen Beispielen weitermachen, doch würde das den Rahmen sprengen. Eins ist klar: Die toten Winkel lauern überall – an den Bezirksgrenzen, zwischen Szenekiezen und sogar mitten im Stadtzentrum.
Woher rühren diese blinden Flecken?
Wie konnte es zu diesen blinden Flecken und toten Ecken kommen? Das ist sicherlich mehreren Faktoren geschuldet, allen voran den geschichtlichen Entwicklungen: Auf den Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Zerstörung der Stadt folgte die mehr als 40-jährige Teilung. Schaut euch einfach mal Fotografien aus der direkten Nachwendezeit an, auf denen erkennbar wird, wie der ehemalige Mauerverlauf einen breite Schneise leeren Nichts hinterlassen hat! Dazu kommen völlig gegenläufige stadtplanerische Konzepte, die Verschiebung der Stadtzentren nach dem Mauerfall und die unterschiedlich schnelle Entwicklung von Kiezen und Bezirken, die ihrerseits diverse Entwicklungen durchgemacht haben. Zu Ostzeiten war Marzahn hip, heute haftet dem Bezirk noch immer das Label "Resterampe" an.
Wo bleibt hier die Gentrifizierung?
Nun müsste man jedoch meinen, die Gentrifizierungskeule wäre in den vergangenen Jahren zur Genüge geschwungen worden. Schließlich steigen die Mietpreise von Tag zu Tag, während die Baukräne von Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang sich unermüdlich hin- und her bewegen, um den Hausbau voranzutreiben. Dennoch hat man das Gefühl, dass in den oben beispielhaft aufgeführten Straßen und Kiezen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Selbst am Ostbahnhof ist keinerlei Aufbruchsstimmung spürbar, auch wenn aus dem ehemaligen Kaufhof nun ein Zalando-Headquarter werden soll mit zahlreichen neuen Angeboten für die Bewohner.
Berlin wird langfristig verdichtet, schlecht ist das nicht
Übrigens: Auch ich lebe in einem dieser toten Winkel. Wobei, mein toter Winkel rund um den Nordbahnhof ist bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so tot ist. Bereits 2009 wurde meinem Viertel von der Berliner Morgenpost ein eigener Name verliehen: Kiez der Spione, mittlerweile ist der Begriff fest verankert. Und nicht nur das, auf einmal ploppen hier Restaurants und Cafés auf, unser kleiner Park füllt sich mit Leben und an manch schönem Tag prokrastinieren die ganz Mutigen schon auf der Chausseestraße.
Und auch in anderen Vierteln, die mir vorher irgendwie nichtssagend erschienen, habe ich da Gefühl, dass sie in Bewegung sind. Ein spannendes Beispiel ist das Quartier rund um das Jüdische Museum, in dem ebenfalls neue Restaurants und Cafés, Feinkostläden und Spätis aufmachen und in dem die Menschen sich plötzlich sehr gern aufhalten, statt nur durchzuhetzen.
Da der Berlin-Hype einfach nicht abflauen will, steht dieses Schicksal wohl noch zahlreichen weiteren, vermeintlich toten Winkeln bevor. Auch wenn ich ein erklärter Gegner der Gentrifizierung bin: Diesem positiven Nebeneffekt kann ich etwas abgewinnen. Insofern bleibt es spannend, was in den nächsten Jahren geschieht, denn die Verdichtung ist wohl nicht aufzuhalten. Und sind wir doch mal ganz ehrlich, die blinden Flecken wird niemand vermissen. Wer weiß, vielleicht wird sogar die Heinrich-Heine-Straße eines Tages der Place to Be sein. Noch glaube ich jedoch nicht daran.