Warum Getränke Lehmann nicht für die Armut der Stadt verantwortlich ist

Einen Sündenbock muss es scheinbar immer geben. In diesem Fall traf es den Berliner Traditionshändler Getränke Lehmann, der durch seinen Werbeslogan "Ick koof bei Lehmann" den gleichen Kultstatus erreichte wie der Autoverleiher mit der berühmten Robbe als Markenzeichen. Lorenz Maroldt, seines Zeichens Chefredakteur des rennomierten Tagesspiegels, nahm ein Hauspostschreiben sowie einen einzelnen Erfahrungsbericht als Anlass dafür, in diesem Artikel heftige Kritik an dem Händler und seinem Sozialverhalten zu üben.

In eine an die Mitarbeiter adressierte "Hausinfo" mit dem Vermerk "dringend" wies die Geschäftsführung von Getränke Lehmann die Angestellten an, Flaschensammlern nur gegen Herausgabe von Umsatzsteuer-Identifikationsnummer und Adresse die Pfandgutschrift zu erstatten. Maroldt witterte sogleich einen Skandal und belegt diesen mit einem Bericht des Berliner Rechtsanwalt Stefan Senkel, wonach ein Lehmann-Mitarbeiter einem Flaschensammler die Rückgabe von 15 Flaschen verweigerte.

Das klingt in der Tat nach einem Skandal, schließlich würde damit den Ärmsten der Armen eine der wenigen Einnahmequellen verweigert. Tatsächlich kann es sich hierbei aber auch nur um einen übereifrigen Mitarbeiter handeln, denn die exakte Anweisung lautet, dass die Daten all jener Flaschensammler gesammelt und geprüft werden sollen, die der Sammelei gewerbsmäßig und nicht in geringfügigen Mengen nachgehen. Das ist seit jeher Gang und Gebe bei den meisten Händlern, die sich vor Sammlern mit LKW-Ladungen voller Festival-Pfandsäcke schützen wollen. In den meisten Supermärkten gilt ein Limit von 40 Flaschen, der sogenannten haushaltsüblichen Menge. Große Discounter nehmen erfahrungsgemäß ohne Beanstandung mehr an.

Was das alles mit Lehmann zu tun hat, ist völlig schleierhaft.

Maroldt unterscheidet nicht eindeutig zwischen der natürlich zu beanstandenden Fehlinterpretation des Angestellten und der Anweisung der Geschäftsführung. Stattdessen haut er Lehmann so richtig in die Tonne. Die Reaktionen auf der Website des Tagesspiegels sind entsprechend vehement. Dutzende Leser haben im Forum bereits angekündigt, nicht mehr bei Lehmann einkaufen zu wollen. Das liegt auch daran, dass der Artikel eine äußerst eigenwillige Wendung nimmt: Nachdem der vermeintliche Pfandflaschen-Skandal aufgedeckt wird, widmet sich Maroldt der Bestattungspraxis Obdachloser und prangert hierbei den Berliner Behördenwahnsinn an, der verhindert, dass den Ärmsten der Stadt ein würdevoller Abschied bereitet werden könne. Als positives Beispiel führt er hingegen die Kölner Praxis an. Was das alles mit Lehmann zu tun hat, ist völlig schleierhaft.

Man bekommt das Gefühl, dass einem kleinen Händler mit einer zugegebenermaßen strittigen Hauspost der "Schwarze Peter" zugeschoben werden soll. Doch die Ursache für die Berliner Armut ist bei dem Händler nicht zu suchen. Tausende Menschen leben auf den hauptstädtischen Straßen. Tendenz steigend. Die Politik hätte längst handeln müssen, doch stattdessen passiert nichts. Sich mit einer Reichweite wie der Tagesspiegel sie besitzt, hierüber zu echauffieren, wäre deutlich sinnvoller als einen Berliner Händler dermaßen gegen die Wand zu fahren.

Sich mit einer Reichweite wie der Tagesspiegel sie besitzt, über das Versagen der Berliner Politik zu echauffieren, wäre deutlich sinnvoller als einen Berliner Händler dermaßen gegen die Wand zu fahren.
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