Nicht nur Schnickschnack im Cocktailglas – Das Verbot von Plastikstrohhalmen diskriminiert Menschen mit Behinderungen

© Gabriel Gurrola | Unsplash

von Raul Krauthausen

2015 ging ein Video viral, das eine Meeresschildkröte zeigt, der unter Schmerzen ein zwölf Zentimeter langer Plastikstrohhalm aus der Nase gezogen wird. Was folgte, war eine Welle der Empörung: Plastikstrohhalme in unseren Ozeanen, die Ökosystem und Meeresbewohnern schaden, gehen gar nicht. Der Trinkhalm wurde zum Symbol für die etwa 700 Kilogramm Plastikmüll, die pro Sekunde in den Weltmeeren landen. Doch nun soll damit Schluss sein. Anfang des Jahres verkündete die EU, dass neben Halmen auch Einwegbesteck und Teller aus Plastik ebenso wie Ballonhalter verboten werden sollen. Auch außerhalb Europas verbannen Unternehmen und ganze Städte die umweltverschmutzenden Kleinteile.

Es stimmt, dass Plastik mittlerweile zu einem riesigen Problem geworden ist. Es ist billig, wird achtlos weggeworfen, verrottet nicht und führt zu massiver Umweltverschmutzung – für deren Folgen die Schildkröte aus dem Video nur ein Beispiel ist. Dass nun jedoch ausgerechnet der Strohhalm verboten werden soll, greift zu kurz. Zwar sind die Trinkhilfen unter den Gegenständen, die am häufigsten an Stränden gefunden wurden, in ihrer Gesamtheit machen sie allerdings nur einen geringen Anteil der bis zu 13 Millionen Tonnen Plastikmüll aus, die jährlich in den Ozeanen landen. Außerdem lässt ein Verbot vollkommen außer Acht, dass Strohhalme für manche Leute nicht nur Schnickschnack im Cocktailglas sind, sondern lebenserleichternde und notwendige Alltagshelfer.

Dass nun jedoch ausgerechnet der Strohhalm verboten werden soll, greift zu kurz

Tatsächlich gibt es viele Menschen mit bestimmten Behinderungen, für die ein Strohhalm essentiell ist, um eigenständig zu trinken. Entweder, weil sie ihre Arme nicht bewegen können oder vom Hals an abwärts gelähmt sind, weil sie an Parkinson erkrankt sind, ihre Hände zittern oder sie eine Spastik haben. Ohne Strohhalm bleibt das Getränk unerreichbar oder wird verschüttet. So ein einfacher Gegenstand, wie ein Strohhalm bedeutet für diese Menschen Selbstbestimmung.

Das Verbot lässt vollkommen außer Acht, dass Strohhalme für manche Leute nicht nur Schnickschnack im Cocktailglas sind, sondern lebenserleichternde und notwendige Alltagshelfer.

Warum denn kein Papier, Bambus oder Silikon?

Wer jetzt nach umweltfreundlichen Alternativen ruft, wird schnell merken, dass diese keine wirkliche Optionen sind. Metallstrohhalme lassen sich nicht biegen. Sie bergen ein Allergierisiko oder sogar eine Verletzungsgefahr. Denn wenn jemand eine Spastik hat, schneidet er sich daran den Mund auf oder beißt sich einen Zahn aus. Wie gefährlich Halme aus Glas in einem solchen Fall wären, bedarf wohl kaum einer Erklärung. Bambus ist ebenfalls unflexibel und zudem sehr teuer. Silikon wird schnell unhygienisch und so biegsam es ist, der Knick bleibt nicht bestehen. Und was ist mit Papier? Ebenfalls unflexibel. Zudem lösen sich die Halme nach kurzem Gebrauch auf und bergen so ein zusätzliches Verschluckungsrisiko. Heiße Getränke werden zur Gefahr und funktionieren auch mit Acryl- oder Pastastrohhalmen nicht.

Plastikhalme sind immernoch die beste Lösung. Sie sind günstig, hygienisch, mehrfach verwendbar, sie haben – im Idealfall – einen Knick, bergen kein Verletzungsrisiko und lassen sich mit den Zähnen problemlos festhalten. Für viele Menschen mit Behinderung gibt es also keine wirkliche Alternative. Nichtbehinderte, die immer wieder auf eine solche hinweisen, versetzen sich nicht in die Lage von behinderten Menschen. Diese müssen sich wieder einmal rechtfertigen oder stehen im schlimmsten Fall als Umweltsünder da.

Plastikhalme sind immernoch die beste Lösung

Auch der Ansatz, dass Plastikstrohhalme in Restaurants grundsätzlich verboten sind, für diejenigen, die sie benötigen, aber auf Nachfrage herausgegeben werden sollten, ignoriert einmal mehr die Benachteiligung in unserer Gesellschaft. Denn wieder müssen Menschen mit Behinderung danach fragen, nehmen die Position des Bittstellers ein und brauchen eine vermeintliche Extrawurst. Das fühlt sich nicht gut an und kommt im Alltag ohnehin schon oft genug vor. Vielmehr sollte doch eine Umgebung geschaffen werden, die auf Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ausgelegt ist – auch, wenn das ein paar Plastikstrohhalme mehr bedeutet. Wie wäre es denn beispielsweise, wenn man das Personal dahingehend schult, dass sie jeden Gast – ob mit oder ohne ersichtliche Behinderung – fragen, ob sie zum Getränk einen Strohhalm haben möchten? Es wäre ein recht geringer Aufwand, der denjenigen, die auf das kleine Utensil angewiesen sind, viel Selbstbestimmung und Würde zuspricht.

Vielmehr sollte doch eine Umgebung geschaffen werden, die auf Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ausgelegt ist – auch, wenn das ein paar Plastikstrohhalme mehr bedeutet.

Wir sollten Aktionismus hinterfragen

Ja, Umweltschutz ist gut und wichtig. Und ja, unsere Gesellschaft muss den Plastikverbrauch sowie ihren CO2-Ausstoß reduzieren, sollte sich für den Nutzen von regionalen Lebensmitteln und artgerechte Tierhaltung stark machen. Aber manchmal sollten wir Aktionismus hinterfragen. Denn momentan ist das Strohhalm- Feuchttücher und Wattestäbchenverbot nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Politiker können sagen, sie hätten etwas für den Umweltschutz getan, ohne an den wirklich großen Stellschrauben (man denke an die Autoindustrie, Schifffahrt usw.) zu drehen.

Wer bei diesem Thema einmal mehr als Randgruppe behandelt und vollkommen außer Acht gelassen wird, sind die Menschen mit Behinderung. Sie wollen ihren Cocktail nicht mit einem Strohhalm schlürfen, weil sie Meeresschildkröten hassen. Sie sind darauf angewiesen und wollen ein selbstbestimmtes Mitglied dieser Gesellschaft sein. Diesen Aspekt sollte man, bei aller Emotionalität der Debatte nicht außer Acht lassen.

Menschen mit Behinderung wollen ihren Cocktail nicht mit einem Strohhalm schlürfen, weil sie Meeresschildkröten hassen. Sie sind darauf angewiesen und wollen ein selbstbestimmtes Mitglied dieser Gesellschaft sein.
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