Survival of the Fittest – Dieses Buch lehrt dich, in Berlin zu überleben

© Stephan Doetsch

In seinem Buch "Willkommen in Berlin" beschreibt Nicky Reinert auf unterhaltsame Art seine Beobachtungen der Menschen in Berlin, die jedem schon mal aufgefallen sind. Sein Fokus liegt auf den klassischen Antagonisten: Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer. Hier könnt ihr einen Auszug aus dem Buch lesen.

Auszug aus dem Buch "Willkommen in Berlin"

Montag.

Es ist ein diesiger Montagmorgen in jenem entlegenen Berliner Randbezirk. Schlaftrunken steuere ich auf dem Weg ins Büro die Haltestelle für die Tram an. Oder wie sie von vielen Autofahrern auch ehrfürchtig genannt wird: Die gelbe Eisenfaust. Eigentlich ist die Tram nur eine ordinäre Straßenbahn. Aber irgendein findiger Stadtplaner meinte, dass Tram, eine Abkürzung des englischen Worts tramway, mehr nach Weltstadt klingt als StraBa.

Die gelbe Eisenfaust

Der Einstieg in die Tram kommt einem Lauf über menschliche Hindernisse gleich. Die meisten Fahrgäste postieren sich direkt an den Türen, denn schließlich müssen sie in 59 Stationen ja wieder aussteigen. Lass dich von dem ersten Eindruck einer überfüllten StraBa also nicht verunsichern. Hast du den Einstieg erst einmal überstanden, eröffnet sich dir in den Räumen zwischen den Ausgängen der paradiesische Zustand einer fast leeren Tram. Der Fahrgast-Dichtegrad sinkt grundsätzlich in jedem öffentlichen Verkehrsmittel überproportional mit zunehmender Distanz zu den Türen.

Eine Straßenbahn ist per Definition ein Verkehrsmittel, das 15 bis 20 Minuten lang gar nicht kommt, um dann dreimal direkt hintereinander zu fahren. Die erste Tram ist dann meist so überfüllt wie ein indischer Linienbus zur Rush-Hour. Trotzdem werden sich 96% der wartenden Fahrgäste in die erste der drei ankommenden Straßenbahn drängen, völlig ignorierend, dass direkt dahinter zwei weitere komplett leere Bahnen in Wartestellung auf Fahrgäste lauern und Sitz- und Stehplätze im Überfluss anbieten.

Der Fahrgast-Dichtegrad sinkt grundsätzlich in jedem öffentlichen Verkehrsmittel überproportional mit zunehmender Distanz zu den Türen.

Die Straßenbahn, die in meine Richtung fährt, verkehrt an diesem Morgen, wie es sich für einen Montag gehört, nur unregelmäßig bis selten, während auf dem Gleis in die andere Richtung alle drei Minuten eine Straßenbahn einfährt. Das ist durchaus nicht ungewöhnlich und ich habe bereits eine Strategie entwickelt, um mir diese Besonderheit zunutze zu machen. Ich nehme Umwege in Kauf und entscheide mich spontan beim Eintreffen an der Straßenbahnhaltestelle in welche Richtung ich fahre.

Bei der Gestaltung des Reiseplans muss man in Berlin stets flexibel genug sein und auch mal spontan die Seite wechseln können.

Nach zwei Stationen – die ich auch bequem hätte laufen können – spuckt die Straßenbahn mich und die anderen Randstadt-Pendler auf den Bürgersteig aus. Die farblose, schlaftrunkene Menschen-Masse quillt still in Richtung Bahnhof. Es geht vorbei an einem Fleischer, der wie jeden Montagmorgen mit exotischen, fleischgewordenen Wurstfantasien meine Geruchsgeduld herausfordert und dann über eine graue Steintreppe hinauf auf den Bahnsteig, wo sogleich das rollende Musikantenstadl einfährt: Die S-Bahn.

Das rollende Musikantenstadl: die S-Bahn

Die S-Bahn heißt übrigens nicht U-Bahn, weil die sogenannte Untergrundbahn auch mal unter der Erde fährt, aber dafür nur selten auch oberirdisch unterwegs ist. Deshalb war die U-Bahn damals, zur Einführung in 1902, auch noch als Hoch- und Untergrundbahn bekannt. Doch auch mit der S-Bahn, die bereits 1838 in Betrieb genommen wurde, ist man auf einigen wenigen Linien unterhalb der Stadt unterwegs. Allerdings gibt es nur in der U-Bahn eine Video-Überwachung. Die Aufforderung zum Einsteigen und Zurückbleiben erfolgt außerdem von einer Frauenstimme; eine Männerstimme sagt die nächste Station an – die manifestierte Gleichberechtigung! In der S-Bahn ist die Ansagestimme immer männlich. Und deshalb unterscheidet man in U- und S-Bahn. Noch Fragen?

Wenn ich in der S-Bahn nicht angesprochen werden und alleine sitzen wollte – also immer – versteckte ich meine Müdigkeit bisher hinter einem grimmigen Blick. Das war ein Fehler. Denn wer alleine fahren will, muss freundlich sein.

Das hat zwei Gründe: Erstens ist der durchschnittliche Berliner auf dem Weg zum oder vom Arbeitsplatz nicht besonders gut gelaunt, übermüdet oder hungrig. Oder alles zusammen. Er schaut also von Natur aus halbwegs abweisend und wird alles daransetzen, die Gesellschaft Gleichgesinnter zu suchen, die ebenfalls nicht besonders einladend schauen. Erst dann befindet sich der typische Hauptstädter in bester Gesellschaft.

Jeder Tourist wird dich als echten Berliner identifizieren, wenn du mürrisch dreinschaust. Man wird sich entweder stolz neben dich setzen, für ein Selfie oder ein Autogramm, und dich mitunter sogar nach dem Weg fragen und in Gespräche über deine Heimatstadt verwickeln. Seitdem schaue ich ausnahmslos freundlich, wenn ich alleine sein möchte.

Und zweitens wird dich jeder Tourist als echten Berliner identifizieren, wenn du mürrisch dreinschaust. Man wird sich entweder stolz neben dich setzen, für ein Selfie oder ein Autogramm, und dich mitunter sogar nach dem Weg fragen und in Gespräche über deine Heimatstadt verwickeln. Es hat eine Weile gedauert, bis ich dahinterkam. Seitdem schaue ich ausnahmslos freundlich, wenn ich alleine sein möchte.

Im Laufe der Jahre entwickelt man viele wichtige Überlebensstrategien im Umgang mit den S- und U-Bahnen dieser Stadt. Im Zentrum Berlins z.B. fahren die Züge meist in Takten von wenigen Minuten. Wer also am überfüllten Bahnhof Alexanderplatz steht und sich Sorgen macht, wie er einen der begehrten und bequemen Sitzplätze mit Fensterblick erhaschen kann, sollte ein oder zwei Stationen in die Gegenrichtung fahren, um dort den Zug in die eigentliche gewünschte Richtung zu besteigen.

Wichtige Überlebensstrategien im Umgang mit den S- und U-Bahnen dieser Stadt

Zunächst einmal vermeidet man damit das Aufkommen von Langeweile am Bahnhof. Außerdem hat man nun mehr Zeit, um einen der seltenen Sitzplätze zu finden und am angeklappten Fenster dem emsigen Getümmel der Hauptstadt zu folgen. Und schließlich entgeht man so dem menschenunwürdigen Gedränge vor den offenen Türen. In Australien ist es übrigens Sitte, dass wartende Fahrgäste eine Schlange bilden um das Fahrzeug geordnet zu betreten – ein Vorgehen, das der disziplinierte Deutsche noch nicht für sich entdecken konnte.

In Australien ist es übrigens Sitte, dass wartende Fahrgäste eine Schlange bilden um das Fahrzeug geordnet zu betreten – ein Vorgehen, das der disziplinierte Deutsche noch nicht für sich entdecken konnte.

In Berliner Zügen herrscht ein erbitterter Kampf um Geräusche-Hoheit. Die größte Gefahr für Leib und vor allem Seele sind Bahnmusikanten, die mangelndes Gesangstalent durch übermäßigen Gebrauch elektronischer Musikgeräte zu kompensieren versuchen.

Es wird dir nicht gelingen diesen zu entrinnen! Gibst du Ihnen Geld, werden sie das als Ermutigung verstehen. Gibst du ihnen kein Geld, nötigst du sie, weiterzumachen. Schaue den Bahnmusikanten auch niemals direkt in die Augen, sonst weichen sie dir für den Rest der Fahrt nicht von der Seite. Lächle sie auch nicht höflich an, sonst werden Sie am nächsten Tag – wie zufällig – wieder in deinem Abteil stehen und ihr Stück erneut vortragen.

Gelangst du dennoch in eine dieser scheinbar ausweglosen Situationen, hilft nur noch die Änderung deiner Fahrgewohnheiten. Nutze den Zug an aufeinanderfolgenden Tag zu unterschiedlichen Zeiten und in anderen Abteilen. Dein Fahrweg – vor allem als Pendler – darf nicht berechenbar werden. Du musst unsichtbar werden. Aber versuche unter keinen Umständen selbst ein Instrument zu spielen, um sie aus dem Wagen zu drängen. Sie würden zu einem Duett einstimmen und ebenfalls nicht mehr von deiner Seite weichen.

Du darfst sie aber auch nicht ignorieren. Als ich einmal wie gebannt aus dem Fenster sah und vorgab nichts zu hören, sorgte das Schütteln des Zuges dafür, dass sich mein Kopf ganz leicht, fast rhythmisch vor und zurück bewegte. Der fahrende Minnesänger dachte, es seien seine Töne, die mich zum Träumen animierten und im Takt mit dem Kopf zu wippen – er wich nicht mehr von meiner Seite.

Bis zum frühen Abend, als es mir gelang, in einem unbeobachteten Moment durch ein aufgeklapptes Fenster zu flüchten. Den Weg ins Büro konnte ich mir nun natürlich sparen, weshalb ich unverrichteter Dinge den Heimweg antrat. In der S-Bahn, versteht sich, in der ich mich abgekämpft auf einen gerade so ergatterten Sitzplatz fallen lasse.

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