Selbstreflexion statt Partyexzesse: Warum es nichts bringt, vor seinen Ängsten davonzulaufen

© Alex Gorham | unsplash

Alles um mich herum verschwimmt, wird enger, lauter, greller. Mein Körper zittert und meine Beine werden weich. Der Verstand setzt aus, bis in den Hals pocht mein Herz, Tränen laufen über meine Wangen – zu groß ist der Druck in mir. Ich will weg, ich will raus – will fliehen. Ausgelöst durch eine Kleinigkeit, welche das Fass zum Überlaufen bringt. Manchmal reicht schon eine kleine Veränderung des im Vorfeld akribisch durchdachten Plans, um in eine kleine, große Lebenskrise zu stürzen. Man hört auf zu atmen und zu denken. Stellt das ganze Leben in Frage und auf den Kopf. Frust-Shoppen, Ess- oder Hungerwahn, übertriebene Partyexzesse und unüberlegte Last-Minute-Reisen – all das sind Anzeichen, dass irgendwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist. Und die Flucht erscheint als einzige Möglichkeit dem Ganzen zu entkommen.

Eigentlich bin ich der lebende Inbegriff des Fliehens. Warum auch nicht, es ist nunmal die einfachste Lösung.

Viele in meinem Freundeskreis sind schon häufig in die Verlegenheit des Weglaufens gekommen und mussten sich von mir immer wieder Standpredigten anhören, wie dumm und feige es ist, sich den Ängsten nicht zu stellen, sondern den einfachen Weg zu wählen und vor einer schwierigen Situation wegzulaufen. Dabei muss ich ehrlicherweise sagen, dass ich auch schon mehrmals diesen einfachen Weg gewählt habe. Eigentlich bin ich der lebende Inbegriff des Fliehens. Warum auch nicht, es ist nunmal die einfachste Lösung. Man kann sich wunderbar auf Partys in Exzesse stürzen, übertrieben Sport betreiben oder seine Essgewohnheiten radikalisieren. Und wer genug Geld in der Tasche hat, bucht einfach einen Flug, nach dem Motto „auf und davon“. Neue schöne Erlebnisse und Gedanken durch alte schmerzhafte ersetzen.

Wenn man irgendwo auf dem Erdball unterwegs ist, scheint zu Hause so weit weg zu sein und es existiert kaum mehr in Gedanken. Man trifft jeden Tag auf neue aufregende, interessante Menschen und Orte und vergisst das Chaos zu Hause. Die Ernüchterung kommt dann bei der Rückkehr. Man kommt an, bemerkt, dass das Chaos noch da ist und stürzt in ein viel tieferes Loch als zuvor. Auf einmal erscheint die Reise, die einst so gut getan und sich so richtig angefühlt hat, wie eine große Lüge und das mühsam aufgebaute Kartenhaus bricht in sich zusammen und begräbt einen gleich mit.

Das letzte Jahr war beruflich sowie privat emotional sehr aufwühlend und aufregend, ich merkte zum Ende des Jahres hin, dass ich schon aus allen Löchern pfeife und meine Reizschwelle unter die Minusgrenze geklettert ist. Mich brauchte in der U-Bahn nur jemand schief anschauen, war ich schon auf Krawall gebürstet und mein Herz raste. Beim Einkaufen war ich mega ungeduldig und eckte oft mit anderen Leuten an. Alles ging mir zu langsam, zu wenig effektiv. Mich irritierte grelles Licht, die laute Shopping-Musik bereitete mir Kopfschmerzen. Meine Mundwinkel zogen sich immer mehr nach unten, meine sonst so unendliche Geduld war quasi nicht mehr existent. Ich schämte mich für meine Unfreundlichkeit und Ungeduld und erkannte mich selbst in meinen Taten und Gedanken nicht mehr wieder.

Schweigen ist oft viel lauter und anstrengender als Partygegröle

Ich wusste, ich musste weg. Raus aus Berlin, wollte aber nicht fliehen. Nicht schon wieder. Also entschied ich mich für ein anderes Radikalprogramm: Isolation, trotzdem eine Flucht, aber mit dem Fokus auf mich. Keine Flucht vor mir, sondern zu mir. Das heißt in meinem Fall: Vier Tage Ostsee, ohne Handy und Computer, nur mit meiner Kamera und meinem Notizbuch. Der Auftrag: Konzentrier dich auf dich, hör auf dein Bauchgefühl, öffne deine Gedanken und mach' nur Dinge, die dir gefallen und die du wirklich willst. Ich setzte mich dann wirklich bewusst mit mir und meinen Gedanken an einen Tisch und fragte sie wie es ihnen so geht, was sie gerade machen und was denn eigentlich ihr Plan ist. Hört sich gruselig an und es ist definitiv anstrengender als geglaubt, aber das Gefühl danach ist einfach unbeschreiblich. Innere Ruhe, mehr Willenskraft und Stärke im Alltag und sowohl bei der Arbeit wie auch privat konnte ich meine Ziele viel leichter fokussieren. Man fühlt sich leichter, obwohl die Probleme meist noch vorhanden sind.

Seit ein paar Jahren probiere ich nun bewusst, nicht mehr zu fliehen. Versuche meinen Gedanken Raum und Zeit zu geben und mich mit Situationen auseinander zu setzen, mag es auch noch so wehtun im ersten Moment. Das kann manchmal ganz unterschiedlich aussehen. Ich gehe joggen um mich im Kopf leichter zu fühlen, ich schreibe um meine Seele zu entlasten, ich meditiere um mich und das Wirrwarr im Kopf zu sortieren, ich schweige, sodass ich wieder ganz leise und langsam von vorne anfangen kann.

Ich gehe joggen um mich im Kopf leichter zu fühlen, ich schreibe um meine Seele zu entlasten, ich meditiere um mich und das Wirrwarr im Kopf zu sortieren, ich schweige, sodass ich wieder ganz leise und langsam von vorne anfangen kann.

Ein Allroundheilmittel gegen Die Flucht gibt es leider nicht – es muss jeder seine eigene Taktik finden. Ich hab für mich verschiedene Ansätze gefunden, die mich immer wieder zentrieren und mich zu mir zurückholen, falls ich in Gedanken wieder einmal ans Weglaufen denke. Wichtig ist nur, dass man sich bewusst und regelmäßig Zeit für sich selbst nimmt und keine Angst vor seinen Gefühlen und Gedanken hat. Und dass Schweigen oft viel lauter und anstrengender ist als Partygegröle.

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