Netflix auf eigene Gefahr? Warum die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" gefährlich sein könnte

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Tote Mädchen lügen nicht – so lautet der deutsche Titel des Romans von Jay Asher, der die Basis für den Netflix-Serienhit des letzten Jahres lieferte. Die 17-jährige Hannah nimmt sich das Leben, indem sie sich die Pulsadern aufschneidet und hinterlässt 13 Kassetten, auf denen sie mit ihren hinterbliebenen Mitschülern abrechnet. Als 13 Reasons Why im März 2017 auf Netflix erschien, entbrannte eine öffentliche Debatte, wie sie der Streaming-Dienst wohl bis dahin nicht erlebt hatte.

Viele lobten die Serie, weil sie sensible Themen aufgriff, Aufmerksamkeit für psychische Probleme schaffen wollte und vor allem jüngeren Zuschauern signalisieren sollte, dass sie nicht alleine sind und sich Hilfe suchen können. Von der anderen Seite wurde die Serie hingegen scharf kritisiert und als höchst problematisch eingestuft: Zahlreiche Psychologen, Gesundheitsorganisationen und schließlich auch Netflix selbst sprachen ausdrückliche Warnungen vor dem möglicherweise triggernden Inhalt der Serie aus.

Trotzdem startete nun letzten Freitag die zweite Staffel. Da es im Gegensatz zur ersten Staffel keine Buchvorlage gibt, ist die Handlung noch ziemlich unklar, die große Frage bleibt jedoch dieselbe: Kann auf diese Art ein sinnvoller Beitrag zur Diskussion um psychische Krankheiten, Mobbing und sexuelle Gewalt geleistet werden? Oder richtet die Serie mehr Schaden an als sie Gutes tut?

Die Geschichte romantisiert den Selbstmord eines jungen Mädchens und stellt ihn zudem noch als unausweichliches Resultat einer Verkettung von äußeren Umständen dar.

Während ich das hier schreibe, bin ich ehrlich gesagt noch nicht ganz sicher, ob ich die zweite Staffel überhaupt schauen möchte. Die erste Staffel hat mich zwar zugegebenermaßen mitgerissen – was bei der großen Menge an Cliffhangern nicht allzu verwunderlich ist, außerdem ist der Soundtrack großartig. Sie hat aber auch Folge für Folge ein mulmigeres Gefühl hinterlassen. Denn mehrere Dinge stehen meiner Meinung nach zurecht in der Kritik.

Zum einen romantisiert die ganze Geschichte den Selbstmord eines jungen Mädchens und stellt ihn zudem noch als unausweichliches Resultat einer Verkettung von äußeren Umständen dar – anstatt mögliche Lösungsperspektiven wenigstens mit einfließen zu lassen. Die Serie beginnt an einem Punkt, an dem Hannah sich bereits umgebracht hat. In der ersten Folge gerät der männliche Hauptcharakter Clay (der zuvor heimlich in Hannah verliebt war – eine dramatische Liebesgeschichte darf natürlich nicht fehlen) an eine Box mit 13 Kassetten, die sie vor ihrem Tod aufgenommen hat. Während Clay die Kassetten anhört, wird in Form von Flashbacks Hannahs Geschichte erzählt, die erklären soll, warum sie sich das Leben genommen hat. Diese beginnt mit Situationen, mit denen wohl die meisten Schüler im Teenageralter mal in Berührung kommen: Liebeskummer, beendete Freundschaften, Mobbing, Gerüchte, Slut Shaming – und steigert sich schließlich dramatisch bis hin zu einer Vergewaltigung durch einen Mitschüler.

Hannah spricht in Form ihrer Tapes wie aus dem Jenseits. Ihr Selbstmord erscheint dem Zuschauer auf diese Weise nicht nur wie eine logische Schlussfolgerung aus den von ihr geschilderten Vorfällen, sondern fördert auch die gefährliche Idee von einer Rache an ihren Mitschülern, nach dem Motto: "Wenn ich mich umbringe, werden endlich alle merken, wie schlecht sie mich behandelt haben." So entsteht der Eindruck, dass es okay ist, anderen die Schuld für den Selbstmord einer Person zu geben – und das ist niemals okay.

Auch wenn es nicht verkehrt ist, wenn Zuschauer animiert werden, ihr Handeln und dessen potenzielle Folgen zu hinterfragen, ist diese Darstellung viel zu vereinfacht und wird der Thematik nicht gerecht. Denn ein weiteres großes Problem der Serie ist die Tatsache, dass Depression kaum bis gar nicht thematisiert wird und eine Auseinandersetzung mit der Krankheit nicht stattfindet. Die Serie bildet nicht Hannahs tiefergehende Probleme ab, sondern nur von außen auf sie einwirkende Geschehnisse und Taten von anderen.

Die Serie bildet nicht Hannahs tiefergehende Probleme ab, sondern nur von außen auf sie einwirkende Geschehnisse und Taten von anderen.

Das andere Problem: Sowohl Szenen, die sexuelle Gewalt beinhalten, als auch Hannahs Selbstmord werden sehr, sehr explizit gezeigt, sodass man sich fragt, ob das sein muss – Triggerwarnungen hin oder her. Nicht umsonst wird in der allgemeinen Berichterstattung bewusst auf Details verzichtet, wenn es um Selbstmord geht, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Vergewaltigungen in Film und Fernsehen explizit zu zeigen, ist zudem immer problematisch, weil es sehr leicht zu einer ungewollten Sexualisierung der Opfer führen kann. Die visuelle Darstellung bietet natürlich auch hier ein enormes Trigger-Potenzial für Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Und davon völlig abgesehen: Was bringt es dem Zuschauer? Sowohl die Vergewaltigungsszenen als auch die detaillierte Darstellung von Hannahs Selbstmord in der letzten Folge der ersten Staffel sind beim Ansehen kaum zu ertragen. Der Schock-Effekt ist gewollt, aber für die Geschichte völlig unnötig.

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Nun ist 13 Reasons Why aber online verfügbar. Also was nun? Es kann auf keinen Fall die Lösung sein, die Serie zu verbieten und Trigger und problematische Darstellungen zu vermeiden, indem sensible Themen gar nicht angesprochen werden. Auch wenn man vieles hätte anders machen können – vielleicht bekommt das Thema durch die Serie in der Tat mehr Aufmerksamkeit und wird (hoffentlich) reflektierter diskutiert. Es ist außerdem gut und wichtig, dass Netflix und die Produzenten von 13 Reasons Why auf die Kritik reagiert haben – die zweite Staffel ist mit einem noch ausführlicheren Trigger-Hinweis versehen als die erste, und auf der Homepage sind Anlaufstellen für Hilfesuchende und Info-Material für Eltern und Lehrer zu finden.

Was kann man darüber hinaus noch tun? Letztendlich liegt es eben in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, was er sich anschaut und welche Auswirkungen er damit in Kauf nimmt. Aber vielleicht können wir aus der Debatte um 13 Reasons Why auch etwas lernen, das generell im unserem Umgang miteinander selbstverständlicher werden sollte: aufeinander Acht zu geben und mehr zu hinterfragen, welchen Einfluss wir selbst nicht nur auf das Wohlbefinden anderer, sondern auch auf unser eigenes haben.

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