Alle denken ich bin arrogant, dabei bin ich nur schüchtern

© Unsplash | Sacannah Walters

Ich versuche, Augenkontakt zu meiden. Nur ganz kurz antworten, sonst sage ich noch etwas falsches. Nicht zu viel preisgeben, sonst könnte ich mich verletzlich machen. Diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Jeden Tag bei mindestens einem Gespräch. Auf meine Umgebung wirkt es, als sei ich abgehoben, hochnäsig, kurzum: arrogant. Dabei bin ich eigentlich nur schüchtern und allein der Gedanke, die Menschen um mich herum könnten mich für arrogant halten, schnürt mir die Kehle für jedes weitere Wort zu.

Schon in der Schulzeit war ich die Person, über die die wenigsten etwas wussten. Freunde konnte ich an einer Hand abzählen. Ich wollte keine Details von mir preisgeben. Ich bin eben nicht so extrovertiert wie die anderen. Von mir kursierten keine Gerüchte über Exzess-Partys oder Liebeleien mit einem Boy aus der Oberstufe über den Schulhof. Von mir gab es immer nur diesen einen Ruf: Ich sei arrogant. Geändert hat sich dieses Gerücht nie, weder über die Jahre noch über mehrere Schulwechsel durch Umzüge.

“Ich will nicht mehr, dass mich Menschen auf den ersten Eindruck falsch einschätzen.”

Nachgefragt, geschweige denn nachgehakt, woher dieses Gerücht stammt, habe ich allerdings auch nicht. Bis heute. Ich habe mit meinen Freunden gesprochen und sie nach ersten Eindrücken von mir gefragt. Denn soweit ich weiß, halten mich alle meiner engeren Freunde nicht für arrogant. Sie sind den Schritt eingegangen mich kennenzulernen. Oder ich sie. Denn ich will nicht mehr, dass mich Menschen auf den ersten Eindruck falsch einschätzen.

Meine Schüchternheit gaukelt meinem Gegenüber schnell mal vor, dass ich nichts über mich erzählen möchte. Ich rede mit Absicht von der “Schüchternheit” weil sie zwar ein Teil von mir ist, aber eher wie ein Schleier über mir liegt, sobald ich neue Menschen kennenlerne. Bin ich in einer Runde von Bekannten und Vertrauten, merkt man mir nicht mal an, wie verschlossen ich sein kann. Doch sobald jemand Neues dazu stößt, wird es heikel. Meist friert mein Gesicht ein und anstelle eines netten Lächelns tritt eine versteinerte erschrockene Grimasse, die sich erste nach einigen Sekunden wieder löst. Noch dazu kommt, dass ich anfange, nur einsilbig zu antworten, keine Gegenfragen zu stellen und keinen Augenkontakt halten, sondern weit in die Ferne gucke, als wollte ich die Sonne am Horizont suchen.

Zwischen Resting-Bitch-Face und der Angst, Augenkontakt zu halten

Dass diese Reaktion mit Arroganz verwechselt werden kann, war mir bis vor Kurzem nicht klar. Jetzt sehe ich die Situation jedoch mit ein bisschen Abstand und muss zugeben: Ich bin überrascht, wie mich meine Freunde bis jetzt kennengelernt haben. Die Distanz, die ich besonders zu Beginn des Gesprächs aufbaue, dient ja nicht der Abgrenzung. Ich möchte lediglich meine eigene kleine sichere Gedankenwelt abschotten, in der mich niemand angreifen und verletzen kann. Der Augenkontakt ist ein weiteres Problem. Sobald ich merke, wie mich andere Blicke fast schon malträtieren, möchte ich nur noch, dass die Erde sich öffnet.

Ich bin überrascht, wie mich meine Freunde bis jetzt kennengelernt haben. Die Distanz, die ich besonders zu Beginn des Gesprächs aufbaue, dient ja nicht der Abgrenzung.

Doch anstatt verschüchtert in der Ecke zu sitzen und auf den Boden zu starren, wie manch andere das vielleicht tun, versteinert sich mein Blick und heftet sich auf das erste Vertraute, was er finden kann. Mein “Resting-Bitch-Face” klebt dann förmlich auf einem meiner Freunde, meiner Jacke an der Garderobe oder einem Gegenstand im Regal. Dieser versteinerte Gesichtsausdruck mit dem leicht gehobenen Kopf, damit ich auch ja kein Augenpaar kreuze, wirkt natürlich nicht schüchtern, sondern wirklich eher arrogant.

Die Lösung: Potentialtraining

Seit Neuestem probiere ich deshalb mit Hilfe eines Potentialtrainings Mechanismen für mich zu entwickeln, wie ich diese Verhaltensmuster durchbrechen und neuen Menschen offener und freundlicher gegenüber treten kann. Ich versuche mehr Selbstbewusstsein aufzubauen. Darüber hinaus gibt es auch kleine Rituale, die mir in jenen Situationen helfen können. Beispielsweise versuche ich, immer wieder Menschen einige Sekunden länger in die Augen zu schauen. Dabei zähle ich innerlich immer mit. Ich übe Fragesätze und Smalltalk, um zu Beginn des Gesprächs eine Routine zu bekommen, die mir gleichzeitig Sicherheit verschafft und Zeit, um mich richtig zu akklimatisieren.

Doch nicht nur ich selbst kann versuchen, besser mit der Schüchternheit umzugehen. Ein bisschen Hilfe von außen ist auch nicht verkehrt. Nicht anstarren oder penetrant versuchen, mit mir in ein Gespräch kommen zu wollen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sobald man mir Raum gibt, kann ich wieder durchatmen. Zeit ist auch ein ganz großer Faktor. Facebook, Instagram, Tinder und sämtliche Profilbeschreibungen, die wir irgendwo mal irgendwann ausgefüllt haben, setzen uns dem Gefühl aus, wir müssten schnell die Persönlichkeit von jedem innerhalb einer Sekunde beurteilen, meistens sogar nur anhand eines Bildes. Das stimmt natürlich nicht! Bei dem Anblick meines Resting-Bitch-Faces würde euer Finger wahrscheinlich auf der App sofort nach links swipen, euer Urteil ist einer Sekunde gefallen. So kann das natürlich nichts werden mit dem Kennenlernen.

Facebook, Instagram, Tinder und sämtliche Profilbeschreibungen, die wir irgendwo mal irgendwann ausgefüllt haben, setzen uns dem Gefühl aus, wir müssten schnell die Persönlichkeit von jedem innerhalb einer Sekunde beurteilen, meistens sogar nur anhand eines Bildes.

Schüchternheit und Arroganz liegen also gar nicht so weit auseinander. Inzwischen verstehe ich die Gemeinsamkeiten, allerdings auch die Unterschiede! Distanz, kurze Antworten und schlichtweg Verschwiegenheit sind Indizien für beide Eigenschaften. Ich habe mich jedoch etwas damit getröstet, dass Harry Potter und Voldemort sich auch in vielen Dingen ähneln, aber am Ende zählt, was sie nicht gemein haben. Zudem ist die Schüchternheit durch das Potentialtraining selbst etwas schüchterner geworden und lässt sich immer seltener und nur noch vereinzelt blicken.

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