Wie sähe mein letzter Tag wirklich aus?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona diesem seltsamen Leben Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, meistens ziemlich bescheuerten Rätseln des Alltags. Dieses Mal: Wie sähe mein letzter Tag wirklich aus – und würde ich so mein ganzes Leben leben wollen wie sie es auf den Wandtattoos vorschlagen?

Die Zeile „I live my life as if it were my last, live each day at if it was my best“ geistert seit Tagen durch meinen Gehörgang, daran ist ein Song aus der Werbung Schuld. Sofort schießen mir „Carpe Diem“ und „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter“-Wandtattoos ins Gedächtnis. Was, frage ich mich, was würde eigentlich passieren, wenn ich das wirklich tun würde? Wie würde mein letzter Tag aussehen und würde ich dann mein ganzes Leben so verbringen wollen? In meiner Vorstellung sähe dieses Experiment ungefähr so aus:

Heute ist mein letzter Tag

Heute ist mein letzter Tag. Das weiß ich, denn als ich aufwache, blinkt die Batterieanzeige in meinem Nacken rot. „12 Stunden verbleibend“ steht da, danach schalte ich mich ab, für immer, das ist ab Werk so eingestellt und niemand weiß vorher genau, wann der Tag sein wird. Heute ist es bei mir also soweit. Zwölf Stunden, heute Abend gehen die Lampen aus. Bisschen blöd jetzt, morgen wollte ich zum Friseur.

Blöd auch, dass ich schon wach bin. An meinem letzten Tag wäre Ausschlafen schön gewesen, dazu komme ich sonst so selten. Mich jetzt noch einmal hinzulegen und unruhig hin- und her zu wälzen klingt aber auch nicht besonders gut. Und überhaupt, ich will meinen letzten Tag gar nicht schlafend verbringen, sondern nur mit den besten und schönsten Dingen und Menschen. Sollte ich duschen? Nein, das lohnt sich nicht mehr. Für wen auch und wozu? Lieber frühstücken.

Ich will meinen letzten Tag nur mit den besten und schönsten Dingen und Menschen verbringen.

Die erste von drei Henkersmahlzeiten an diesem Tag – was isst man wohl da? Alles, was man im Hinblick auf ein möglichst langes Leben ohne Diabetes Typ II und Arterienverkalkung nur selten isst? Oder das Beste, was man jemals gegessen hat? Also müsste ich mir jetzt entweder Pommes und New York Cheesecake holen oder nach Wien fliegen, um dort im Café Landtmann den Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster und Apfelmus zu essen. Auf das eine habe ich um diese Uhrzeit noch keine Lust und für das andere habe ich keine Zeit mehr. Im Kühlschrank sind noch Reste, es wäre am nachhaltigsten, einfach die aufzubrauchen, dann muss man sie morgen nicht wegwerfen. Ich mache ein Frühstück mit eingelegten Gurken, Rührei und Käsebrot. Ich bin nicht sicher, ob das im Sinne der Aufgabe ist, aber wenn ich schon diesen Planeten verlasse, dann wenigstens mit einem guten Gewissen.

Die Tages- und Abendplanung

Viel schwieriger ist allerdings die restliche Tagesgestaltung. Was mache ich jetzt mit den verbleibenden 11,5 Stunden? Die Zeit tickt. Ich gründe eine Whatsapp-Gruppe („Carpe Diem“) und frage alle meine Freunde, wer Zeit und Lust auf ein Bier heute Abend hat. Um keinen unnötigen Druck und betrübte Stimmung zu erzeugen, erwähne ich nichts von meinem nahenden Ende. Die drei haben Zeit, aber einer hat noch „krass viel zu tun“ und kommt später und eine kränkelt noch und entscheidet spontan, ob sie dabei sein kann. Na gut, besser als nichts. Jemand anderes, der ich nicht bin, würde vermutlich jetzt die komplette Kontaktliste zum gemeinsamen Feiern einladen, aber das passt überhaupt nicht zu mir. An meinem letzten Tag, so scheint mir, falle ich zurück auf den Kern meiner Selbst, weil ich keine Zeit mehr habe, mir oder anderen etwas vorzuspielen.

Dann rufe ich meine Familie an, um nochmal ein letztes Lebenszeichen von mir zu geben. Wir plaudern nett, Wetter gut, gesund, na klar, nein, immer noch nicht verheiratet. Fragen nach einem nächsten Besuch umgehe ich geschickt. Jetzt bleiben mir noch zehn Stunden, um das Beste aus diesem Tag herauszuholen und so richtig einen draufzumachen. Nicht, dass ich sonst gut darin wäre, aber ich fühle mich geradezu verpflichtet, sämtliche Manieren, Prinzipien und Überzeugungen über Bord zu werfen. Jetzt rächt sich, dass ich auf diesem Gebiet bisher keine Erfahrung gesammelt habe. Als die Streberin, die ich bin, beschließe ich aber, es immerhin zu versuchen.

Ich fühle mich verpflichtet, sämtliche Manieren, Prinzipien und Überzeugungen über Bord zu werfen.

In meinem Kühlschrank steht noch eine Flasche Vodka, ich finde das einen guten Einstieg. Ich gieße mir sicherheitshalber erstmal nur ein kleines Glas ein. Tagsüber Alkohol zu trinken fühlt sich seltsam an, aber ich habe ja keine Wahl. Mir wird langsam ein bisschen warm und beschwingt, das ist gut. Jetzt darf ich nicht aufhören, gleich das nächste Glas und dann möchte ich nochmal rausgehen, ein paar Lieblingsplätze besuchen.

Keine Termine und leicht einen sitzen

Wohin jetzt? Welche Orte in dieser Stadt mag ich besonders? Ich habe keine Termine, leicht einen sitzen und noch ungefähr 9 Stunden Zeit, um den besten Tag des Tages zu erleben. Verdammt, was für ein Stress. Vielleicht sollte ich Dinge tun, die ich noch nie getan habe? Oder doch lieber nur das, von dem ich weiß, dass ich dabei Spaß habe? Alle Leute, die ich kenne, sind bei der Arbeit und ich bin zu scheu, sie mit meinem baldigen Ableben in Aufruhr zu versetzen. Ich wandere ziellos umher und nippe, sobald ich merke, dass die sanfte Benebelung nachlässt, am Vodka. Ich fühle mich albern dabei. Das alles entspricht mir überhaupt nicht. Unter diesem Druck kann ich keinen Spaß haben und tagsüber betrunken durch die Stadt zu irren, überlasse ich gerne 16-Jährigen auf Abschlussfahrt.

Es fühlt sich an, als würde ich für sehr lange Zeit in den Urlaub fahren.

Stattdessen besinne ich mich auf mein wahres Ich und gehe zurück nach Hause. Weil nun doch nicht mehr so viel Zeit bleibt, räume ich hektisch meine Wohnung auf, schreibe Listen mit wichtigen Passwörtern und Informationen und lösche den Browserverlauf. Ich richte eine Abwesenheitsnotiz auf unbestimmte Zeit ein, taue den nunmehr leeren Kühlschrank ab und bringe den Müll weg. Es fühlt sich an, als würde ich für sehr lange Zeit in den Urlaub fahren. Das ist eigentlich ein sehr viel schöneres Gefühl.

Als es Zeit ist, zum Abschiedsbier am Späti aufzubrechen, fühle ich mich direkt befreit und gut. Man wird nicht viel Arbeit mit meinem Nachlass haben, die wichtigsten Dinge sind geregelt, ich bin zufrieden. Dann sitzen wir vor dem Späti und reden über unwichtige Dinge. Ich frage etwas unsicher in die Runde, wie die anderen ihren letzten Tag gestalten würden und habe ein wenig Angst vor ihren Antworten. „Auf alles scheißen und richtig die Sau raus lassen!“. „Nochmal die wichtigsten Leute sehen und nur gutes Essen essen.“ – die Antworten sind so unterschiedlich wie die Menschen, von denen sie kommen.

Lebe jeden Tag, als würdest du morgen sehr lange in den Urlaub fahren.

Als ich merke, dass es bald Zeit ist zu gehen, bin ich wahnsinnig traurig. Und genauso dankbar. Ich bereue nichts, besonders nicht den verpassten Absturz. Mit Alkoholvergiftung und Kokskrümeln an der Nase in sämtlichen Clubs der Stadt nochmal alle Geschlechtskrankheiten mitnehmen wäre ohnehin nicht mein Stil gewesen. Und auch nicht die Note, auf der ich mein Leben beenden wollen würde. So wie es jetzt ist, ist es zwar ziemlich langweilig und bestimmt nicht für einen Film geeignet, aber eben auch ziemlich ich. Und wer außer mir selbst sollte ich am Ende dieses Tages sein wollen?

Jeden Tag so zu leben, als wäre es mein letzter, wäre stellenweise ziemlich unangenehm bis anstrengend. Ungeduscht und leicht betrunken herumzustolpern funktioniert vielleicht auf Festivals, aber sobald die Musik aus und das Bier leer ist, fühlt man sich damit auch sehr schnell daneben. Alles andere ist dafür gar nicht so weit von meinem tatsächlichen Leben entfernt. Wenn ich also ein neues Credo ausrufen müsste, wäre es eher das: Lebe jeden Tag, als würdest du morgen sehr lange in den Urlaub fahren. Die Vorfreude auf die Reise lässt einen lästige Pflichten viel leichter erledigen, man verabschiedet sich ohne Schwermut von geliebten Orten und Menschen und am Ende des Tages bleibt eine leichtfüßige Zufriedenheit und nur noch ein Wunsch, den ich nicht nur von Reisezielen, sondern auch für das Jenseits habe: Hoffentlich gibt’s da drüben WLAN.

Hoffentlich gibt's da drüben WLAN.

Auf dem Titelbild trägt Ilona einen Jumpsuit von Weekday und eine Sonnenbrille von Ace & Tate.

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