Zwei sind niemals genug – Wie eine offene Beziehung meine Definition von Liebe veränderte
von Sara Tiendorff
Ohne diese Freunde würde ich wohl nicht in dieser Situation stecken. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich sie dafür lieben oder hassen soll. Wäre es ohne ihren Einfluss nicht alles einfacher? Aber der Reihe nach.
Vor einigen Jahren habe ich über ein gemeinsames Projekt ein paar Menschen kennengelernt und nur wenig später war ich ein fester Teil ihrer Gruppe. Wir hingen viel zusammen rum, tranken, lachten und unterhielten uns. Über das Leben, die Liebe, die Lust. Und Rainer Werner Fassbinder. Nach einiger Zeit bekam ich mit, dass die Pärchen in diesem Freundeskreis ein bisschen anders waren, als ich es gewöhnt war. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Verwunderung: Sie küsst gerade ihn, aber ist er nicht mit ihr zusammen? Die Irritation wich der Neugierde, die dem ehrlichen Interesse wich. Doch damals stand für mich fest: eine offene Beziehung führen – das könnte ich nicht! Nur bei der Vorstellung, dass mein damaliger Freund eine andere Frau küssen oder sogar anfassen würde, ließ meinen Magen verkrampfen.
Die Entkopplung der Gelüste
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, in welchem Zusammenhang mir dieses Licht aufging, aber ich erinnere mich noch an das starke Gefühl der Befreiung, das ich dabei empfand. Ich weiß nicht, ob sie in mir reifte oder plötzlich aufkam in meinem viel denkenden Kopf – die Erkenntnis, dass ich eine Person, die nicht mein Partner ist, körperlich begehren kann, obwohl ich einen Freund habe, den ich liebe und wertschätze und anziehend finde. Für mich fühlte es sich an wie eine revolutionäre Erkenntnis. Und wie eine Befreiung. Wenn ich also jemanden anderen anziehend finde, muss das nicht bedeuten, dass mit meiner Beziehung etwas nicht stimmt.
Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis ich auch meinen Freund und seine Gelüste entkoppeln konnte. Es kostete mich viel Vertrauen und Mut zu dem Entschluss zu gelangen, dass es nichts mit mir zu tun hat, wenn er eine andere Frau anziehend findet. Zumindest in der Theorie.
Zwei sind niemals genug
Doch nur weil ich nicht mehr der naiv-kindlichen Vorstellung erlegen war, dass mein Freund nur mich heiß finden darf, konnte ich mir noch lange nicht vorstellen, dass wir auch mit anderen Menschen Sex haben. Meine rationale Seite wusste zwar bereits, dass der Sex mit einer anderen Frau nichts an seinen Gefühlen zu mir ändern wird, trotzdem hatte ich bei der Vorstellung schreckliche Angst, dass ich ihm nicht genug sein könnte. Dass ihm mit mir etwas fehlte, dass er sich woanders holen musste. Im Grunde: Dass ich nicht perfekt bin oder dass wir nicht perfekt für einander sind. Es gibt definitiv schönere Sachen, als sich mit dieser Angst auseinanderzusetzen. Aber einmal angestoßen, konnte ich nicht anders, als den letztlich befreienden Gedanken zu Ende zu denken.
Ist es nicht völlig utopisch zu glauben, dass ein einzelner Mensch sämtliche Bedürfnisse, die wir in zwischenmenschlichen Beziehungen haben, erfüllen kann? Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass zwei niemals genug sind. Im Umkehrschluss muss das nicht bedeuten, dass das Bedürfnis nach weiteren (Sexual-)Partnern dazu zählt. Aber ich weiß definitiv, dass ich von meinem Freund niemals wieder erwarten werde, dass er mir alles geben kann, was ich brauche. Für einige Bedürfnisse habe ich Freunde, für andere meine Familie, für wieder andere Hobbys und meinen Job.
Ist es nicht völlig utopisch zu glauben, dass ein einzelner Mensch sämtliche Bedürfnisse, die wir in zwischenmenschlichen Beziehungen haben, erfüllen kann?
Das Bedürfnis nach aufregenden ersten Küssen und Berührungen und das Bedürfnis nach Freiheit gehören für mich dazu. Ich liebe den Adrenalinschub, wenn ich einem Fremden das erste Mal näher komme, seine Hände auf meinem Körper spüre, seine Lippen erlebe und wir uns ohne jegliche Vertrautheit dann doch so nah sind. Natürlich kann mein Freund mir dieses Gefühl nicht geben. Und das ist auch gut so, denn mit meinem Partner möchte ich sehr vertraut sein. Aber er braucht es mir auch nicht geben können. Denn zwei sind niemals genug.
Dieser eine Mensch, für den es sich lohnt?
In der Theorie hatte ich also für mich festgestellt, dass ich die Idee einer offenen Beziehung doch nicht mehr für so undenkbar hielt. Aber warum sollte ich es riskieren und mich dieser Situation tatsächlich aussetzen? Ich fühlte mich wohl und sicher mit ihm. Ich war glücklich. Und trotzdem war da Platz für einen anderen Mann.
Als ich dann IHN kennenlernte, war ich sofort hin und weg. Einfach alles an ihm war toll. Ich wollte wirklich gerne Zeit mit ihm verbringen, ihn küssen und wissen, wie es sich anfühlt, mit ihm zu schlafen. Und zum ersten Mal fühlte ich mich deswegen nicht schuldig. Mir war völlig klar, dass meine Beziehung völlig unabhängig davon existierte. Ich legte mit meinem Freund Regeln fest: Wir bleiben immer die oberste Priorität für einander und haben immer ein Veto-Recht. Wir erzählen uns keine Details über andere Menschen, die wir treffen. Wir sind immer ehrlich zu einander und sprechen darüber, wie wir uns mit der Situation fühlen. Wir fangen nichts mit Menschen aus dem Freundeskreis an.
Freiheit, Vertrauen und Hingabe
Bei der ersten Party, auf die ich nach diesem Entschluss alleine ging, war ich aufgeregt wie ein Teenager. Ich wusste, dass ich die Gelegenheit nutzen konnte, wenn ich das wollte. Gleichzeitig hatte ich einen tollen Partner, der mich liebte und mit dem ich sehr glücklich war.
Der erste Sex mit einem anderen Mann fühlte sich wirklich gut an. Ich fühlte mich frei und gleichzeitig sicher und geborgen, denn mein Freund gab mir eine völlig neue Form von Sicherheit. Gleichzeitig verschwand meine Eifersucht, mit der ich sonst zu kämpfen hatte, wenn er ohne mich unterwegs war. Ich hatte immer die Befürchtung, dass er beim Feiern jemanden kennenlernen könne. Nun war diese Angst weg, denn ich wusste, dass ich seine Nummer 1, seine Priorität, seine Liebe bin und seine Begierden nichts mit mir zu tun haben. Noch nie in meinem Leben war ich mir so sicher, dass ich nur mit diesem einen Menschen zusammen sein will. Ich fühlte mich geliebt und geborgen und gleichzeitig frei und unabhängig. Ich bezweifle, dass wir diese Form der Intensität jemals ohne das Öffnen der Beziehung miteinander erreicht hätten. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob man eine solche Beziehung überhaupt aufbauen und führen kann, wenn man sie nicht offen gestaltet.
Ich fühlte mich geliebt und geborgen und gleichzeitig frei und unabhängig.
Grenzen, Eifersucht und Verlustängste
Es war ein wirklich hartes Stück Arbeit, dieses Stadium zu erreichen. Aufwühlend, anstrengend, belastend, zermürbend sind die Emotionen, die mir fast zeitgleich mit der Erinnerung an die Intensität der Beziehung einfallen.
Wir mussten ständig reden. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich das Gefühl, dass wir über fast nichts anderes mehr redeten als über unsere Beziehung. Das war nicht nur anstrengend, sondern nahm uns auch den Raum, unbeschwert miteinander zu sein. Noch dazu mussten wir ehrlich sein und manchmal tat seine Ehrlichkeit auch weh. Für mich als konfliktscheue Person, war es immer eine große Überwindung, meine Gefühle und Gedanken ungefiltert mitzuteilen. Denn jedes Gefühl in diesem Kontext hatte seine Berechtigung und musste besprochen werden. Wenn sich dann trotz aller Offenheit die Eifersucht einschlich, kam ich mir albern vor. Ich lernte, wirklich ehrlich zu mir selbst zu sein und in Konflikten meinem Partner zu vertrauen. Ich durfte irrational sein oder eine wirklich andere Meinung haben, er liebte mich trotzdem.
Wir mussten unsere Grenzen erfahren, indem wir sie überschritten.
Wir mussten unsere Grenzen erfahren, indem wir sie überschritten. Wie viele Dates nebenher sind zu viele? Wie bleibt genügend Zeit für uns? Wie intensiv führen wir den Kontakt zu unseren Affären? Was passiert, wenn sich einer von uns verliebt? Jede Grenzüberschreitung tat weh und führte unweigerlich zu Verlustängsten und Zweifeln. Von Gedanken wie: "Was findet er denn an dieser ollen Tusse bitte toll?", "Ob sie wohl heißer ist als ich? Oder es ihm besser besorgen kann?" bis zu "Ich habe wirklich Angst ihn zu verlieren!" ist so ziemlich alles an negativen Gedanken mit dabei, die du dir vorstellen kannst. Also einfach ist definitiv anders.
Alles wieder von vorne
Nun ist meine erste offene Beziehung schon eine Weile her. Wir haben uns schlussendlich getrennt, weil wir sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft hatten. Gerade bin ich neu verliebt und ich glaube, ich habe da einen ganz besonderen Menschen gefunden. Wir haben eine wahnsinnig gute Verbindung zu einander und können sehr ehrlich miteinander sprechen. Und er ist total begeistert von der Idee, eine offene Beziehung zu führen. Es ist absolut faszinierend, ihn durch diese ersten Erkenntnisschritte zu begleiten. Viele seiner Gedanken kommen mir sehr bekannt vor. Gleichzeitig frage ich mich, ob es nicht doch einfacher wäre, eine ganz klassiche monogame Beziehung zu führen und sich den ganzen Stress zu ersparen. Machen wir es uns damit nicht vielleicht noch schwerer, als es sein müsste? Doch ich brauche mir nichts vormachen. Ich kann nicht mehr zurück. Meine Freunde haben mich erfolgreich zu einer von ihnen gemacht.
Ist es nicht doch einfacher, eine ganz klassiche monogame Beziehung zu führen und sich den ganzen Stress zu ersparen?