Wenn dich Unordnung in den Wahnsinn treibt – Porträt eines Pedanten
Meine Schwester ist bei mir zu Besuch. Ich will ihr die Jacke abnehmen, doch in diesem Moment klingelt es erneut an der Tür, sodass sie selbst zum Kleiderbügel greift und ihre Jacke, ordentlich – denkt sie – in meinen offenen Kleiderschrank hängt. Ich kehre mit meiner Mutter zurück und sehe den braunen Mantel meiner Schwester zwischen einer hellen Denim-Jeans und einer hellblauen Bluse. Es juckt mich in den Fingern bis ich ihren Mantel zu den restlichen braunen Sachen hänge. Mein Herzschlag verlangsamt sich wieder. Sie schaut mich entgeistert an. Den darauf folgenden Streit erspare ich euch, aber es sollte mich noch Jahre verfolgen, dass ihr Mantel nicht einfach irgendwo in meinem Schrank hängen durfte. Ein nach Farben sortierter Kleiderschrank ist nur der Anfang einer Reise in die organisierte, ordentliche und saubere Welt eines Pedanten.
Mittlerer Härtegrad
Wenn Kinder besonders ordentlich sind, ist das fast schon komisch – so als würden sie keine Süßigkeiten mögen. Meine Ordnungssucht hat schon früh angefangen. Dass ich pedantisch bin ist mir aber erst einige Jahre später aufgefallen. Ich habe festgestellt, dass es verschiedene Typen und Intensitätsstufen bei uns Ordnungsfanatikern gibt. Ich würde mich selbst als mittleren Härtegrad bezeichnen. Ich stelle nicht alle Tassen mit dem Henkel in eine Richtung auf, bestehe aber darauf, dass im Bad nur eine anstatt zwei angefangener Klopapierrollen stehen. Meine Gäste dürfen ruhig krümeln oder ihre Straßenschuhe anlassen, ich finde es jedoch furchterregend, wenn jemand kein Notizbuch besitzt.
Aber herumliegende Kabel oder leere Taschentücherpackungen können mich in den Wahnsinn treiben. Wenn ich morgens aufstehe, den Fuß auf den Boden setze und ein Krümel unter dem Ballen spüre schnellt mein Herzschlag hoch, meine Hände werden klebrig vor Aufregung und die Gefühlsübertragung über den Nerv im Fuß schießt nach meiner Wahrnehmung durch den ganzen Körper. Wenn dann noch der Teebeutel beim Wasser-Eingießen in die Tasse fällt und am Abend nicht alles aufgeräumt ist, damit ich auch guten Gewissens schlafen kann, ist der Tag gelaufen. Meine Konzentration schwindet und meine Gedanken kreisen allein um die Lösung des Problems.
Mein Denkarium
Auch wenn ich mir damit mehr Probleme beschere als andere, ist das alles ein Teil von mir. Ich schäme mich nicht für den Ordnungsfimmel, noch kämpfe ich dagegen an. Ich lebe damit täglich und inzwischen macht es mir richtig Freude. Besonders in einer so wilden und turbulenten Stadt wie Berlin lernt man kurz und schmerzvoll, dass das Leben nicht immer geordnet sein kann. Zum Beispiel, wenn die Bahn ausfällt und man zu spät kommt oder es mal wieder Stau auf der Straße gibt. Die Möglichkeit an potenziell schwierigen Situationen sind endlos. Manchmal hätte ich gerne wie Dumbledore ein Denkarium, in das ich all die Unordnung aus meinen Hirnwindungen ablade.
So ist meine eigene Wohnung die beste Möglichkeit, mir mehr Ordnung zu schaffen. Wenn ich hier meinen Wahnsinn auslebe, stört es niemanden und mich beruhigt es immer und überall zu wissen, dass es zuhause in diesem Moment ordentlich und sauber ist. Um die Unordnung in meinem Kopf zu lösen, habe ich mir ein Bullet Journal angeschafft, in dem ich alles ordnen, planen und gestalten kann, wie ich will. Damit ich auch in der Online-Welt nicht untergehe in der Flut an Bildern, Videos und Beiträgen, abonniere ich nur ausgewählte Seiten. Auf Instagram beschränkt sich die Auswahl zumeist auf "schöne" Bilder. Diese sind arrangiert und wirken für die meisten wohl eher langweilig. Wenn dann auch noch das Farbschema der Seite stimmt, könnte ich sie mir jedoch stundenlang ansehen.
Ein Pedant zu sein ist keine Krankheit oder Störung. Es ist viel mehr eine Lebenseinstellung, eine, die man vielleicht nicht selbst gewählt hat, die mir aber unterbewusst durchaus gut tut. Vielleicht ist es eine Gegenreaktion meines Verstandes auf den wirbeligen und ungeordneten Alltag mit zwei älteren Schwester und einer alleinerziehenden Mutter. Zwar wird es für diese Situation keine Lösung geben, jedoch fange ich an, immer mehr auch kleine Unordnungen zuzulassen. Ich kann manche Zwänge in mir durch Meditation und autogenes Training leichter loslassen. Durchaus denkbar, dass meine Wahl des Zuhauses ausgerechnet deshalb auf dieses Fleckchen Erde gefallen ist – quasi als eine Art Selbsttherapie.