"Hast du einen Freund?" – Warum müssen wir uns immer vor unserer Familie rechtfertigen?

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Familie. Für die einen ist sie der Fixpunkt, der Rückzugsort, eine Gruppe von Seelenverwandten. Das gleiche gut finden, das gleiche doof finden. Für die anderen fühlt sich jede Familienfeier wie ein Spießrutenlauf an. Und Oma ist der Endboss. Die meisten von uns lieben ihre Familie, auf die eine oder andere Art und Weise. Schließlich wollen sie ja auch nur unser Bestes. Aber was ist der Preis für dieses Beste?

Meine Freundin ist mit dem Studium fertig. Ähnlich wie ich hat auch sie eine von diesen brotlosen Geisteswissenschaften studiert. Jetzt muss sie sich auf den Arbeitsmarkt schmeißen und einen Job suchen. So wie alle anderen Absolventen auch. Ob die Welt wohl dringend noch mehr Geisteswissenschaftler brauche, wurde sie gefragt. Und natürlich auch, wie sie denn jetzt ihr Geld verdienen wolle. Ein paar Wochen arbeitslos sein und sich einen Job suchen, erscheint in ihrer Familie als eine Art Todsünde. “Ich bin froh, dass ich zumindest einen Freund habe.”, sagt sie. Lust ihre Familie zu sehen, bis sie einen festen Job gefunden hat, hat sie keine.

Warum müssen wir uns immer rechtfertigen?

Ich habe schon öfter mitbekommen, dass sie sich bei Familienfesten diesen Fragen stellen musste. Sie gibt auch selbst zu, dass sie vermutlich an diesem Punkt sensibel reagiert. Aber wer würde das nicht. Denn natürlich macht sie sich selbst auch Sorgen um ihre Jobsuche.

Auf der Social-Media-Plattform Jodel habe ich einmal einen Post gelesen, in dem ein junger Mann nach einer Frau gesucht hat, die bereit wäre, zu Weihnachten bei seiner Familie seine Freundin zu spielen. Er schrieb, dass die Nachfragen seiner Familie bezüglich einer neuen Freundin ihn zuletzt so sehr genervt hätten, dass er seine Familie angelogen hat. Nun zu Weihnachten drohte der Schwindel aufzufliegen und in seiner Verzweiflung suchte er jetzt eine Fake-Freundin für die Familienfeier.

Ganz offenbar müssen viele von uns sich an diesen zwei doch sehr bürgerlichen Kategorien “Job” und “Beziehung” messen lassen.

Karriereplanung und Beziehung statt Selbstverwirklichung

Ich persönlich habe diese Erfahrungen nicht gemacht. In meiner Familie bin ich, neben meiner Tante, die einzige mit einem Hochschulabschluss. Auch wenn es “nur” ein Master in Literaturwissenschaft ist und ich jetzt mit meiner Freiberuflichkeit weder Reichtümer anhäufe, noch Grimme-Preise verliehen bekomme, wird mein beruflicher Werdegang in meiner Familie kaum kritisch beäugt. Und zu meinem Liebesleben muss ich auch keine Fragen beantworten. Vielleicht fällt es mir darum umso mehr auf, wenn Freunde und Freundinnen mir von dem Druck in ihren Familien berichten.

Dabei scheinen die entscheidenden Kategorien, in denen man sich beweisen muss, Karriereplanung und Beziehung zu sein. Aus Sicht einer Generation, für die Selbstverwirklichung immer hinten anstand, durchaus nachvollziehbar. Was ich mich frage ist: Warum lassen wir uns von unserer Familie, also den Menschen, die uns eigentlich bedingungslos lieben und unterstützen sollten, in Kategorien quetschen, die für uns selbst eine ganz andere oder auch gar keine Rolle spielen?

Natürlich wünschen sich die meisten von uns auch einen Job, mit dem wir genug Geld zum Leben verdienen können und vielleicht wünschen wir uns auch eine eigene Familie. Aber die meisten von uns setzen bei ihren Entscheidungen doch andere Maßstäbe an. Wie kommt es, dass wir trotzdem das Gefühl haben, uns vor unseren Familienmitgliedern rechtfertigen zu müssen?

Warum lassen wir uns von unserer Familie in Kategorien quetschen, die für uns selbst eine ganz andere oder auch gar keine Rolle spielen?

In der Regel hat unsere Familie einen so großen Einfluss auf uns, dass wir uns dessen gar nicht bewusst sind. Sie prägt uns und macht uns zu dem Menschen, der wir sind. Doch was passiert, wenn die Familie andere Vorstellungen davon hat, wie wir unser Leben führen sollten? Die Menschen, denen wir ja unser Leben zu verdanken haben, äußern klar oder implizit ihre Wünsche, ja vielleicht auch ihre Erwartungen an uns. Wie könnten wir uns gegen diese Erwartungen stellen? Es ist demnach auch wenig verwunderlich, dass wir das Gefühl haben, unseren Familien gerecht werden zu müssen. Auch in Kategorien, die uns selbst vielleicht gar nicht so wichtig sind.

Niemand gibt gerne seine "Schwächen" zu. Auch wenn man seine Partnerlosigkeit selbst nicht als Schwäche wahrnehmen würde (Warum auch?), ist es schwer vor den Menschen, die es als solche bewerten, dazu zu stehen. Und es ist nur logisch, dass sich die Erwartungen auch auf unser Selbstkonzept auswirken. Vielleicht sind wir innerlich ein bisschen zerrissen zwischen den alten Werten unserer Familien und unseren eigenen neuen Werten. Eine Differenz zwischen dem idealen und dem realen Selbstbild bzw. Selbstkonzept führt häufig zu einem verminderten Selbstwertgefühl. Wenn wir dann noch von unserer Familie auf diese Differenz angesprochen werden, fühlen wir uns schlecht.

Wie können wir damit umgehen?

Es ist nicht verwunderlich, dass in Familien häufig die Kategorien Beruf und Beziehung abgefragt werden – sie waren der Gradmesser eines erfüllten Lebens unserer Eltern. Wenn wir uns diesen Fragen entziehen oder uns nicht mehr für unsere Entscheidungen rechtfertigen wollen, sollten wir eine andere Strategie verfolgen. Wir können zum Beispiel versuchen, unseren Familienmitgliedern unsere Sicht auf die Dinge zu erklären. Wir könnten zu unseren vermeintlichen "Schwächen" stehen. Wenn wir gerade keinen Job haben, warum sollten wir nicht auch darüber sprechen? "Ich habe keinen Job und ich habe auch etwas Angst, keinen zu finden."

Wie wäre es außerdem, wenn wir selber anfangen würden, unsere Familienmitglieder zu fragen, ob sie denn glücklich seien. Vielleicht könnten wir sie auch unterstützen? Oma langweilt sich alleine und fühlt sich einsam? Wie wäre es, im Internet zu schauen, welche Angebote für Senioren es in der Umgebung für sie gibt? Oder ihr bei etwas anderem helfen. Dann hat sie auch nicht mehr so viel Zeit, sich Gedanken um unsere Zukunft zu machen.

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