Verzeihen oder verlassen – Wie gibt man jemandem eine zweite Chancen?

© Joshua Sazon | Unsplash

Lena und ich sind Freundinnen seit wir 13 Jahre alt sind. Dabei waren wir weder auf der gleichen Schule, noch im selben Verein und wohnten auch nie im selben Ort. Wir brauchten diese oberflächlichen Schnittpunkte für gemeinsame Interessen nicht. Denn wir haben es auch so geschafft, uns fast jeden Monat zu sehen. Selbst als wir für das Studium weiter auseinanderzogen, haben wir uns mehrmals im Jahr getroffen. Mit ihr war immer schon alles ganz einfach. Gestritten haben wir uns nie. Dafür stundenlang gequatscht. Bis vor einem Jahr.

Misstrauen aus Selbstschutz

Es war ihr 23. Geburtstag und ich war stinksauer. Auf sie, auf ihre Freunde, auf mich selbst. Denn ich hatte mich von ihr ausnutzen lassen. Lena führte mich vor. Sie klang überheblich – gar dreist – und ihre Worte trafen mich. Ich erkannte sie nicht wieder. Mir war, als wäre ihr unsere zehn Jahre wehrende Freundschaft gleichgültig. Nach ein paar quälenden Stunden machte ich mich aus dem Staub. Anstatt meiner Wut freien Lauf zu lassen und ihr ihr Fehlverhalten an den Kopf zu werfen, hörte ich auf mich bei ihr zu melden. Ich beschloss, dass wir einfach nicht mehr so gute Freunde waren und uns verändert hatten.

Denn hier ist der Knackpunkt: Wer mich einmal enttäuscht, dem möchte ich nicht die Angriffsfläche geben, es ein zweites Mal zu tun. Das hat nichts damit zu tun, nachtragend zu sein, eher mit emotionalem Selbstschutz. Frei nach dem Sprichwort: „fool me once, shame on you – fool me twice, shame on me”. Doch wie lange ist dieses Denken gesund? Verbaue ich es mir nicht irgendwann selbst, wenn ich niemandem mehr eine zweite Chance geben kann?

Bis der Faden reißt

Dieser Gedanke beschäftigt mich eine Weile, denn bekanntlich hat jeder eine zweite Chance verdient. Oder nicht? Natürlich gibt es keine Pauschalgleichung für alle Probleme. Da spielt mehr als nur ein Faktor eine Rolle. Die Beziehung zu der anderen Person ist wichtig. Sei es ein Freund, ein Partner, ein Familienmitglied oder ein Kollege. Man muss sich selbst fragen, wie viel einem an der Person liegt. Lohnt es sich, Arbeit in die Beziehung zu investieren, um diese aufrecht zu erhalten? Oder ist man möglicherweise besser dran, wenn man sich von negativen Einflüssen entfernt und sich auf sich selbst konzentriert?

Was damit einhergeht, ist die Situation, in der wir uns befinden. Wie schlimm ist der Grad des Konflikts? Kann der Fehler wieder gut gemacht werden und wenn nicht, genügt die Einsicht über das Fehlverhalten? Ein Streit unter Freunden beispielsweise ist leichter zu verzeihen, als ein Seitensprung des Partners. Je tiefer der Riss ist, desto mehr Faden wird zum Flicken benötigt. Und diesen Faden muss man geduldig entwirren, damit er nicht reißt.

Je tiefer der Riss ist, desto mehr Faden wird zum Flicken benötigt. Und diesen Faden muss man geduldig entwirren, damit er nicht reißt.

Zwei verschiedene Paar Schuhe

Zwischen „jemandem etwas verzeihen“ und „jemandem eine zweite Chance geben“ liegt die Kommunikation. Über Kleinigkeiten kann man hinwegsehen. Häufen die sich an, sieht man irgendwann nur noch rot. Es gibt doch immer diese eine Person, der wir alles verzeihen. Egal wie sehr sie es schon verbockt hat. Bevor man da die Reißleine zieht, sollte man sichergehen, dass die Person verstanden hat, dass sie sich grade auf Bewährungsprobe befindet. Sie sollte die Möglichkeit bekommen, ihr Verhalten zu reflektieren und ändern. Ob sie es dann tut, ist eine andere Sache.

Was bringen schließlich zweite Chancen, wenn sie nicht erkannt werden? Dann werden aus zwei Chancen plötzlich drei, vier oder fünf. Man läuft Gefahr, sich langsam aber sicher ausnutzen zu lassen. Bis man keine klare Linie mehr ziehen kann, weil alles schwammig wird und man aufgegeben hat, die Enttäuschungen mitzuzählen. Mit Lena war es das Gegenteil. Ich war damals so von ihrem Verhalten schockiert, dass ich einfach nicht darüber hinwegsehen konnte. Ihr Wesen hat für mich eine 180-Grad-Wende genommen. Kann man das überhaupt revidieren, fragte ich mich. Hier geht es nicht um kleine Streitereien. Es geht um schweren Vertrauensmissbrauch und Enttäuschungen, die so tief sitzen wie Messerstiche.

Eine zweite Chance bringt nur dann etwas, wenn man verstanden hat, warum es beim ersten Mal nicht geklappt hat.

Letztendlich liegt es an dir

Dabei ist doch ganz normal, Fehler zu machen. Schließlich lernen wir daraus. Bekämen wir keine Chancen, diese wieder gerade zu biegen, hätten wir dann nicht andauernd panische Angst, etwas falsch zu machen? Ich überlege, wann ich jemandem zuletzt eine zweite Chance gegeben habe. Es fällt mir eine einzige Situation ein. Und rückblickend bin ich so froh, sie gegeben zu haben. Eine zweite Chance bringt nur dann etwas, wenn man verstanden hat, warum es beim ersten Mal nicht geklappt hat.

Sie sind nicht nur ein Neustart für das Gegenüber. Sie sind die Chance, es sich selbst zu beweisen, dass man aus der Vergangenheit gelernt hat. Dass man schlauer geworden ist und anders an Situationen herangeht, die Déjà-vu Gefühle erwecken. Doch eines muss einem bewusst sein: Wenn man sich auf zweite Chancen einlässt, dann lässt man sich auf Veränderungen ein. Die Beziehung zu der betroffenen Person wird selten sein wie zuvor. Es steht ein gemeinsamer Erfahrungswert dazwischen. Das kann ein neuer Anfang werden, oder der Anfang vom Ende.

Die zweite Chance kann ein neuer Anfang sein, oder der Anfang vom Ende.

Meine zweite Chance

Vor Kurzem war Lenas 24. Geburtstag. Ich gratulierte ihr per WhatsApp. Wir schrieben miteinander, als wären wir Fremde. Dann sagte sie, wie enttäuscht sie über unsere jetzige Situation sei. Ich lud endlich all den Ballast ab, der sich in mir über das letzte Jahr angestaut hatte. Und sie schickte eine Sprachnachricht zurück. Erst da merkte ich, wie sehr ich es vermisste, mit ihr zu reden. So gekränkt ich über ihre arrogante Art war, so sehr störte sie mein passives Verhalten. Wir zeigten einander Verständnis. Kein Fingerzeig, kein Streit. So war das bei uns noch nie gewesen. Im Endeffekt haben wir ihren Geburtstag unterschiedlich wahrgenommen. Die Enttäuschung steht immer noch zwischen uns und die alte Leichtigkeit ist verflogen. Alles andere werden wir herausfinden, wenn wir uns irgendwann mal wieder persönlich gegenüberstehen.

Tatsächlich bin ich aber glücklich, dass Lena über ihren Schatten gesprungen ist und das Thema angesprochen hat. Denn es ist so: Hätte sie es nicht getan, hätte ich mich einfach damit abgefunden, dass unsere Freundschaft beendet war. Weil ich gekränkt und stolz war. Ohne Lena hätte unsere Freundschaft keine zweite Chance bekommen. Das muss ich mir vor Augen halten, denn ich habe mein Worstcase-Szenario-Denken Überhand nehmen lassen, anstatt in jemand anderen als mir zu vertrauen. Und das ist traurig für mich zu erkennen. Doch mit diesem Gedanken im Hinterkopf gehe ich behutsam mit der zweiten Chance um, die wir uns gegeben haben.

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