Allein unter Millionen – Macht das Leben in der Großstadt einsam?

Beton, Hochhäuser, Rücklichter von Autos, Abgasschwaden, blinkende Reklame, verglaste Fassaden. Graffitis, Neubau, Zerfall, Zigarettenstummel, festgetretener Kaugummi auf Asphalt. Mit diesen stereotypen Bildsequenzen könnte eine Dokumentation über das Leben in der Großstadt anfangen. Eine Stimme aus dem Off liest Zahlen vor. Soundso viele Einwohner habe diese Großstadt, soundso viele Menschen seien davon alleinstehend, allein lebend, ohne Familie, ohne Anschluss. Schnell fällt dann der Schlüsselsatz wie ein Fallbeil: "Großstadt macht einsam." Schnitt. Melanie, 36, seit vier Jahren Single, sucht im Internet einen Mann. Und so weiter.

Spätestens das ist der Punkt, an dem ich ausschalte. Nicht wegen Melanie, die ist bestimmt super und ich wünsche ihr alles Gute. Sondern weil ich mich aufrege, denn ich finde, dass dieser Ausspruch "Großstadt macht einsam" weder wahr ist, noch das Problem auf den Punkt bringt.

Den Namen der Nachbarn kennt man in der Großstadt nur, wenn sie Pakete für einen annehmen

Machen wir eine kleine Zeitreise zurück. Nicht um hundert Jahre, sondern nur um ein paar Monate – an Weihnachten sind viele von uns in ihre Heimatkleinstädte und -dörfer zurückgekehrt und haben sich ein paar Tage lang statt über verspätete Ringbahnen über zu langsames Internet aufgeregt. Haben den Familien und Freunden von ihrem urbanen Leben erzählt, vom Lärm und dem Müll und den Menschen und den Möglichkeiten, denn von alledem gibt es in der großen Stadt sehr viel. Und Tauben, davon gibt es auch viel zu viele.

Im Gegenzug haben wir uns Geschichten aus dem Kleinstadtkosmos angehört. Nachbar A hat schon wieder ein neues Auto, keine Ahnung, woher der die Kohle nimmt. Bestimmt krumme Geschäfte! Nachbarin B ist grade zur Kur wegen ihres Rheumas und die Großmutter der Schulfreundin wohnt jetzt in der Einliegerwohnung bei deren Eltern, da kann man sie besser versorgen. Ein paar Häuser weiter sind neue Leute eingezogen, man kenne sich noch nicht, aber das werde sich schon noch ergeben in den kommenden Wochen. Alltägliche Geschichten aus einer mittlerweile fast fremden Welt, in der gegenseitiges Interesse, Anteilnahme und mitunter auch ein gewisser Voyeurismus das Gleitmittel für soziales Miteinander sind.

Wo früher die Menschen aufeinander angewiesen waren, ersetzt immer öfter Technik den Kontakt.

Zurück in der ausgekühlten Etagenwohnung in der Großstadt, ernährte man sich noch bis zum Jahreswechsel vom aufgeladenen Akku zwischenmenschlicher Wärme und spätestens mit dem letzten weggebrachten Pfand hat man sich wieder an die Anonymität, die Schnelligkeit, die automatisierten und technisierten Abläufe gewöhnt. Denn allein schon die Namen der Nachbarn kennt man in der Großstadt meist nur, wenn sie regelmäßig Pakete für einen annehmen (und dann zwei Wochen lang nicht erreichbar sind).

Wo früher die Menschen aufeinander angewiesen waren, ersetzt immer öfter Technik den Kontakt

Da fällt es zugegebenermaßen leicht, zu sagen "Großstadt macht einsam". Wo früher die Menschen aufeinander angewiesen waren, ersetzt immer öfter Technik den Kontakt. Wo in der Großstadt alles schnell gehen muss, bleibt wenig Zeit für die Pflege loser Bekanntschaften oder langes Plaudern im Hausflur. Man könnte selbst dann überleben, wenn man das Haus nicht mehr verließe – und naja, an gewissen Tagen klingt das sogar ganz verlockend. Manchmal wünsche ich mir zum Beispiel einen Service, der nicht wie der Paketdienst klingelt und mir mein Paket übergibt, sondern das Paket einfach ganz diskret vor meiner Haustür abstellt und mich per Nachricht darüber informiert. Dann könnte ich, ähnlich wie bei dieser Katzen-Sparbüchse, meine Hand durch den Türspalt strecken und mir mein Paket angeln.

© Giphy

Ein Leben wie im Moby-Video: düster, grau, grob gezeichnet

Aber natürlich geht es bei der Argumentation, dass Großstadt ihre Bewohner einsam macht, nicht um solche Detailaufnahmen. Vielmehr meint diese Behauptung den Gesamtkomplex städtischer Lebensrealität, die Abläufe, Strukturen und Institutionen, zwischen denen wir uns bewegen. Und das oft, viel öfter als früher und viel öfter, als wir uns bewusst sind: allein. Ein Leben wie im Moby-Video – düster, entwurzelt, grau, grob gezeichnet; die Gesichter mit tief und dunkel in den Höhlen liegenden Augen, ein Auflösen in der unüberbrückbaren Distanz zwischen den Körpern.

Unleugbar gibt es viele Menschen, denen es genau so geht. Die tagtäglich gegen Einsamkeit und Gefühle von Verlorenheit und Isolation ankämpfen und für die der Gang vor die Tür einer Herkulesaufgabe gleicht – nur, dass sie danach nicht als Held zurückkehren, sondern tief erschöpft, mit weichen Knien und feuchten Handflächen. Dennoch ist nicht die Großstadt Schuld daran. Einsamkeit ist zu allererst ein innerer Ort. Sie reift wie französischer Weichkäse vom Kern zum Rand – ergreift erst die Gedanken, dann das Fühlen, dann das Handeln. Und nimmt den gleichen Weg wieder zurück. Schicht um Schicht lagert sie sich an und hüllt ein, was mal soziale Zugehörigkeit war. Wenn man lange genug allein war, vergisst man, wie sich Menschen anfühlen und wie man sich selbst unter Menschen anfühlt. Es wird unvorstellbar und damit irgendwann unmachbar. Besonders jenen, die von Natur aus nicht mit einem extrovertierten Wesen ausgestattet wurden oder in ihrem Leben Erfahrungen gemacht haben, die sie scheu oder ängstlich gemacht haben, reicht die  sicher wirkende Isolation des Stadtlebens bereitwillig die kalte Hand.

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Großstadt macht nicht einsam, genauso wenig wie Zigaretten ein Lungenkarzinom auslösen

Dabei macht nicht die Großstadt an und für sich einsam, genauso wenig, wie Zigaretten ein Lungenkarzinom auslösen. Es ist unser aktives Handeln, das die Dinge pathologisch werden lässt. Erst das Rauchen macht die Zigarette schädlich. Erst das Nichtteilnehmen am sozialen Geschehen macht Einsamkeit möglich. Es ist ein schleichender, passiver Prozess. Er findet im teils zufälligen, teils bewussten Auslassen oder Vermeiden der Möglichkeiten statt. Denn im Grunde ist die Großstadt im Gegenteil ein Ort, an dem niemand einsam sein müsste: überall suchen die Menschen Gesellschaft, treffen sich in Bars, Clubs, Vereinen, Laufgruppen, beim gemeinsamen Gärtnern, Singen, Malen oder auf Fetischparties. Nie war es einfacher, sich mit Menschen zusammenzutun, die die eigenen Interessen und Leidenschaften teilen. Digital gut vernetzt war es nie einfacher, sie auch zu finden. Und wer sich wirklich verschanzen will, schafft das auch im 300-Seelen-Kaff.

Großstadt macht nicht einsam, aber Großstadt macht Einsamkeit einfach.

Die Crux ist eine andere. Der soziale Rückzug ist nur eine Nachricht, einen Klick, einen gesenkten Blick weit weg. Statt mit Menschen umzugehen ist es plötzlich ungleich leichter, Mitmenschen zu umgehen. Was sich hinter der Fassade eines funktionierend wirkenden Kollegen oder Freundes abspielt, ist manchmal nur schwer zu erahnen und noch schwerer, zu kommunizieren.  Im Grunde macht Großstadt nicht einsam. Aber Großstadt macht Einsamkeit einfach. Und unsichtbar. Was ist der Schlüssel, wie wir im urbanen Kontext wieder mehr Kontaktfläche und Reibungswärme zwischen Menschen erzeugen können? Die Antwort darauf könnte auch von jedem Hundetrainer oder Partnercoach kommen: Kommunikation – aber eben auf einem neuen, modernen Level.

Es muss möglich sein, über innere Abgründe wie Einsamkeit zu sprechen, ohne sofort mit dem Stigma des psychisch Kranken behaftet zu werden.

Denn genauso, wie wir Autos mit Elektromotor erfinden oder polygame Beziehungsmodelle austesten, muss sich unsere Generation und alle nachfolgenden eine offenere, ehrlichere Art des Zusammenseins ausdenken. Das fängt beim Zeigen natürlicher Achselbehaarung und Prominenten ohne Make-Up an und hört beim authentischen Umgang mit inneren Abgründen auf. Es muss möglich sein, über innere Abgründe wie Einsamkeit, Scheißtage, dunkle Gefühle zu sprechen, ohne sofort mit dem Stigma des psychisch Kranken behaftet zu werden. Denn mit solchen "Kranken" will sich eigentlich niemand befassen und die Spirale der Isolation dreht sich für die, die einsam sind, nur noch weiter nach unten.

Sich allein zu fühlen, ob momentweise oder schon seit Jahren, ist, auch unabhängig vom Wohnort, leider nichts Ungewöhnliches. Und darüber zu sprechen – ernst, echt, aber ohne Dramatik – sollte es auch nicht mehr sein. Sonst laufen wir bald alle herum wie im Moby-Video, mit hängenden Schultern und schlecht sitzenden Jeans und das kann ja nun wirklich keiner wollen. Man müsste nur mal mit dem Reden anfangen. Zum Beispiel jetzt.

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