Leistungsdruck statt carpe diem – Wir sollten den Alltag nicht immer so ernst nehmen

© Agnieszka Boeske | Unsplash

Ich wache auf und die Sonne scheint durchs Fenster. Der Herbst holt aus zur spätsommerlichen Großoffensive und dann auch noch ein freier Tag. Perfekt. Doch mit der morgendlichen Vorfreude ist es schnell vorbei. Nur ein paar Minuten Ruhe und Frieden, bis ich anfange, mir alle möglichen Gedanken zu machen. Was ich tun, wen ich treffen und wie ich den Tag am besten nutzen könnte, um auch ja nichts zu verpassen. Schon weniger euphorisch gestimmt, aber immer noch halbwegs motiviert greife ich nach meinem Handy, um zu recherchieren. Währenddessen vergeht immer mehr Zeit und schon habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich noch immer nicht draußen bin und den Tag nutze, der schon halb vorbei ist, und irgendwann bin ich soweit, dass ich nur noch im Bett liegen bleiben und mich vor der Sonne und all den ungenutzten Möglichkeiten unter der Decke verstecken will.

Leistungsdruck statt carpe diem

Wir stressen uns in jedem Lebensbereich. Die Zeit rennt uns davon und jede Sekunde muss genutzt werden. Natürlich sinnvoll genutzt werden. Durch Social Media und ständige digitale Präsenz wird der Leistungsdruck in unserem Privatleben immer höher. Mehr unter Druck als mit wirklichem Elan konkurrieren wir um das geilste, aufregendste, interessanteste Leben. Was wir essen, was wir anziehen, welche Creme wir uns morgens ins Gesicht schmieren oder welche Serie wir auf Netflix schauen, alles muss irgendeinem Sinn und Zweck dienen, wobei – ihr ahnt es schon – einfach Spaß an einer Sache zu haben, natürlich weder als Sinn noch als Zweck anerkannt wird. Viel wichtiger ist, ob wir gut dastehen und es gut präsentieren. Am Ende des freien Tages schaue ich mir Sonnenbilder auf Instagram an, von all den Leuten, die das mit dem carpe diem irgendwie besser auf die Reihe gekriegt haben als ich und fühle mich schuldig.

Mehr unter Druck als mit wirklichem Elan konkurrieren wir um das geilste, aufregendste, interessanteste Leben.

Um dem verlorenen Tag wenigstens noch irgendeinen Mehrwert abzuringen, überlege ich, mir einen Film auf Arte anzuschauen, am besten auf Französisch. Oder eine Doku, damit ich etwas lerne, wenn ich schon unachtsam beim Fernsehen esse. So wie ich mir am Kiosk für eine lange Zugfahrt lieber eine Geo Epoche als eine Klatschzeitschrift besorge, damit die Zeit auch ja nicht ungenutzt bleibt ¬– und um dem schlechten Gewissen zu entgehen, dass mir der Kauf einer In Touch zweifelsohne beschert hätte.

Vorwurf, Vorwurf, Vorwurf

Im Allgemeinen lasse ich so ziemlich keine Gelegenheit aus, mir selber Vorwürfe zu machen. Nicht zum Sport gegangen, den Müll nicht richtig getrennt, den Schimmel im Bad nicht entfernt, Fast Food gegessen, den Motz-Verkäufer ignoriert, zu wenig gelernt, zu viel Zeit vertrödelt. Vorwurf, Vorwurf, Vorwurf. Sowas geht nie lange gut. Ein schlechtes Gewissen ist zwar treu und verlässlich, eignet sich aber definitiv nicht als Partner für eine glückliche Beziehung. Auch wer nicht Psychologie studiert oder jahrelang zur Therapie gegangen ist, weiß, dass Dinge zu akzeptieren, statt sie ständig zu hinterfragen und nach Verbesserungen Ausschau zu halten, uns letztendlich gelassener macht. Etwas auf die leichte Schulter zu nehmen, hat einen schlechten Ruf. Aber warum eigentlich? Ist das Leben nicht schwer genug?

Vorsätze und Prinzipien sind gut und schön, doch leider führen sie oft dazu, dass wir uns selbst viel zu verdammt ernstnehmen. Worüber man sich bei sich selbst aufregt, verzeiht man anderen ohne Schwierigkeit. Was hält uns also davon ab, auch im Bezug auf uns selbst mal etwas nachsichtiger und uns selbst ein guter Freund zu sein? Schließlich wollen wir alle nicht mit jemandem zusammen sein, der ständig nur meckert und uns kritisiert.

Etwas auf die leichte Schulter zu nehmen, hat einen schlechten Ruf. Aber warum eigentlich? Ist das Leben nicht schwer genug?

Holen wir uns also etwas von unserer verlorenen Leichtigkeit zurück, indem wir akzeptieren, dass man seinen eigenen Ansprüchen nicht immer gerecht werden kann. Auch ich gelobe Besserung: auch mal RTL statt Arte gucken, mit Kindern Disney-Filme anschauen, In Touch statt Geo Epoche lesen und nie wieder wertvolle Lebenszeit damit verbringen, im Supermarkt darüber nachzudenken, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, die normale Gurke statt die Biogurke zu kaufen.

Inzwischen ist die Sonne untergegangen. Der Tag ist vorbei und ich habe nichts erlebt und nichts gesehen, wovon ich irgendjemandem erzählen könnte. Nun gut, so ist es eben. Ist es wirklich nötig, jetzt lange darüber nachzudenken? Nein. Also mache ich es mir gemütlich, esse eine Pizza, die mir bestimmt nicht gut tun wird und sehe mir dazu "Shopping Queen" an, obwohl ich dabei außer jeder Menge sexistischer Plattitüden bestimmt nichts lernen werde. Ist da nun verschwendete Zeit? Vielleicht. Aber vielleicht habe ich das heute gebraucht. Und wenn das nächste Mal die Sonne scheint, gehe ich einfach schaukeln.

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