Kreuzberg ist kein Platz für Kinder
Die Lage ist folgendermaßen: Ich sitze am Küchentisch in meiner Sprengelkiez-Wohnung und sortiere die Briefmarkensammlung. Draußen im Treppenhaus ist noch immer Radau. Vier Polizeibeamte drängen sich um die Tür meines Nachbarn. Das hab ich vor fünf Minuten durch den Spion beobachtet. Einer der Polizisten bollert mit einer Art Rammbock gegen das Holz unterhalb des Türschlosses, wieder und wieder. Ich nehme an, dass mein Nachbar seinen Schlüssel verlegt hat. Die freundlichen Beamten wollen ihm wohl nur behilflich sein.
Kann ja auch mal passieren. Ich weiß, wie das ist. Nicht unbedingt aus eigener Erfahrung. Als analfixierter Mensch würde ich niemals leichtfertig mit meinem Schlüssel umgehen. Aber es gibt schließlich auch noch andere Arten von Missgeschicken. Heute morgen zum Beispiel war im Hof alles voller Blut. Mehrere kleine Flecken um eine große Lache, außerdem blutige Taschentücher, im gesamten Carré verstreut. Zuerst bin ich erschrocken. Aber dann ist mir klar geworden, dass sich der Gärtner wahrscheinlich nur an den Rosen verletzt hat. Passiert ja schnell.
Die Gefahrenbereiche Berlins
Im Radio höre ich, dass es in Kreuzberg eine Razzia gegeben hat. Mit einem riesigen Aufgebot hat die Polizei den Görlitzer Park abgesperrt und etliche Drogendealer festgenommen. Also ich könnte da ja nicht leben. Ständig diese Kriminalität überall. Schlimm! Vor allem wegen der Kinder. Gut, dass die Polizei eine Liste mit den Gefahrenbereichen veröffentlicht hat. Da werden wir in Zukunft einen großen Bogen drum machen.
Ich zucke zusammen, als es im Treppenhaus kracht. Hat sich fast wie ein Schuss angehört. Doch nein, es war nur der Rammbock.
„Kriegstet heute noch hin?“, höre ich einen Beamten.
„Na, ich rutsch da immer so ab.“, sagt der andere.
„Komm, eenma mit Schmackes. Dann ist der Drops jelutscht.“
„Probier du doch, wenn du so schlau bist.“
Vorsichtig schleiche ich wieder zum Türspion und sehe, wie der Rammbock den Besitzer wechselt. Noch einmal erzittert das Hinterhaus unter den Schlägen.
„Scheiße, ey! Dit is ne Speßialtür, oda wat?“
„Sag ich doch, es geht nicht!“
Der Polizist gibt der Tür einen letzten Schwinger, zuckt dann mit den Schultern.
„Na, lassen wa’t jut sein für heute.“
Wenn es drauf ankommt, halten die Weddinger zusammen
Behäbig poltern die vier die Treppe hinunter. Ich gehe zurück zu meinen Briefmarken. In der Zwischenzeit hat sich die Küche mit einem satten Friteusenduft gefüllt. Anscheinend wird in der Nachbarschaft gerade gekocht. Schmunzelnd schließe ich sämtliche Fenster. Das ist schon ein Völkchen, diese Weddinger. Die möchte ich wirklich nicht missen. Wenn es nämlich drauf ankommt, halten die alle zusammen.
Vor ein paar Tagen ist mir auf dem Bürgersteig vor unserem Haus eine Einkaufstüte geplatzt. Das war ein Durcheinander! Überall sind die Büchsen hingekullert. Bier, Ravioli und Erbseneintopf, eine ganze Wochenration. Aber sofort waren ein paar Leute zur Stelle und haben mir beim Einsammeln geholfen. Die Anonymen Alkoholiker aus der 24 und die mesopotamischen Rocker, die ihren Laden kurz vorm Nordufer haben. Auch der ein oder andere Eckensteher mit unstetem Blick. Klar haben am Ende ein paar Dosen gefehlt. Und bei dem Handgemenge ist sicher auch der ein oder andere Zahn im Rinnstein gelandet. Aber die Stimmung war trotz allem famos.
In Kreuzberg oder – Gott bewahre – Neukölln geht es sicher ganz anders zu. Da würde ich mich nicht hin trauen. Es soll da ja sogar Arbeitslose geben. Und zwar solche, die gar nicht arbeiten wollen. Da bleibe ich lieber im Wedding. Hier geht es kommod und rechtschaffen zu. Gerade als ich das denke, klopft es zaghaft an meine Wohnungstür. Ich geh zum Spion und sehe, dass es der Nachbar von gegenüber ist.
Er reicht mir einige Beutel. Manche scheinen mit Kräutern gefüllt, andere mit Mehl.
„Was los?“, frag ich. „Hast du gar nicht deinen Schlüssel verloren?“
„Nein, nein“, raunt er gehetzt. „Die haben sich in der Tür geirrt. Aber sag mal, nur für den Fall, dass sie wieder kommen. Kannst du das für mich aufheben?“
Er reicht mir einige Beutel. Manche scheinen mit Kräutern gefüllt, andere mit Mehl. Als guter Nachbar frage ich nicht, was daran verfänglich sein soll.
„Danke, Kumpel“, sagt er. „Bedien dich ruhig. Ich hol’s mir, wenn die Luft wieder rein ist.“
Lachend geh ich in die Küche zurück. Mein Nachbar ist schon ’ne Type. So sind wir hier eben im Wedding. Ein bisschen verkorkst, aber jeder passt auf den anderen auf. Im Ghetto von Friedrichshain oder Kreuzberg gibt’s sowas sicher nicht.