Bikinifigur fürs Gehirn: Wer im Frühjahr ausmistet, lebt leichter

© averie woodard | Unsplash

Ich freue mich über die letzten regnerischen, kalten Tage dieser sich ihrem Ende neigenden Jahreszeit. Die letzten regnerischen Tage eines Winters, der wieder einmal endlos erschien. Den Wievielten haben wir heute? Es muss der 42. März sein. Jedenfalls bin ich reif für den Frühling, mehr als reif. Und diesen läute ich wie jedes Jahr, ziemlich spießig, mit einem obligatorischen Frühjahrsputz ein. Das geht natürlich nicht, wenn die Sonne scheint, das geht nur, wenn es keinen Grund gibt, die Wohnung zu verlassen.

In meinen eigenen vier Wänden werde ich innerhalb eines Jahres betriebsblind. Ich sehe im November nicht, was ich in 365 Tagen wieder gekauft, gesammelt und gehortet habe. Deswegen geht es mir darum, Platz zu machen, Raum zu schaffen. Für Neues. Alles neu macht der Mai? Bei mir ist es der März. Musik aufdrehen, unmöglich aussehen, abstauben. Saugen, wischen, polieren, bonern. Aufteilen, spenden, umpacken, loswerden. Es heißt nämlich nur vordergründig Frühjahrsputz, eigentlich geht es um viel mehr.

Ich lebe seit acht Jahren in Berlin und habe das Gefühl, Momente für 32 Jahre erlebt zu haben.

Es ist eine Hommage an das Ausmisten. Ein Akt der Liebe zu sich selbst, von dem ich meine, dass ihn jeder mindestens einmal im Jahr ultra-konsequent ausführen sollte. Wer Angst vor dem Wegschmeißen hat, der kann sich mit der Tatsache beruhigen, dass es nicht gleich im japanischen Purismus enden muss. Doch die Grauzone zwischen Hobby-Messi und Asket hat weitaus mehr als 50 Schichten. 50 Tüten zum Beispiel – 20 zum Wegwerfen, 20 für den Flohmarkt, zehn zum Spenden.

Mit diesem Ritual ziehe ich einmal im Jahr Bilanz, denn jedes Ding in meinem Leben, vom Schuhkarton, indem ich Zeugs aufbewahre, bis hin zum ungetragenen Paar Schuhe und Dokumenten, die ich vor der Angst vor einer plötzlichen Steuerprüfung seit Jahren aufhebe, hat eine Bedeutung, steht für eine Erinnerung. Die Vase, die ich an jenem Tag im Juni vor x Jahren auf dem Flohmarkt gekauft habe, als ich eine x-beliebige schlechte Nachricht erhielt: Brauche ich die? Oder brauche ich die nicht? Ziel ist es, Ballast zu verringern, mein Marschgepäck für weitere 365 Tage neu zu definieren, ehrlich zu mir zu sein. Denn Ausmisten hat viel mit Konfrontation zu tun. Kurzum: Gewicht verringern. Nicht für eine Bikinifigur, sondern für ein Bikinihirn.

Hinter Dingen lässt es sich gut verstecken. Besonders vor den eigenen Gedanken.

All das, was mich umgibt, jede Dose, jedes ungetragene Hemd, jedes Sweatshirt vom Ex, sind Dinge, die mich umgeben wie ein Fort aus Sachen, das im Winter durchaus Sinn macht. Besonders in einer Stadt wie Berlin. Hinter Dingen lässt es sich gut verstecken. Besonders vor den eigenen Gedanken. Der Frühjahrsputz ist eine gute Gelegenheit, zu bewerten, zu behalten und, wenn es sein muss, Abschied zu nehmen. Das klingt übertrieben dramatisch, wenn man zu einem T-Shirt noch nie eine emotionale Bindung hatte.

Doch wie viele Emotionen lohnt es sich für Dinge aufzuwenden, die eigentlich nur Kapazitätenkiller sind? Daher: Entsorgen. Natürlich nicht das Familienfotoalbum, natürlich nicht die Karten vom letzten David-Bowie-Konzert, natürlich nicht den Erbschmuck. Wer sich jedoch Zeit dafür nimmt, Zimmer für Zimmer unter die Lupe zu nehmen, alles einmal in der Hand wendet, was dort steht, der geht automatisch auf eine Zeitreise.

Daher brauche ich das gesamte Wochenende eines Frühjahrsputzes für mich – weil er eine emotionale Angelegenheit ist. Ich lebe seit acht Jahren in Berlin und habe das Gefühl, Momente für 32 Jahre erlebt zu haben. Ich würde bis zum Hals in Erinnerungen und Karohemden stecken, würde ich nicht einmal im Jahr, an der Schwelle vom Winter zum Frühling, ausmisten.

Gewicht verringern. Nicht für eine Bikinifigur, sondern für ein Bikinihirn.
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