"Wie Oktoberfest nur alles mit Verkleidung" – So erlebt ein ehemaliger Berliner den Karneval in Köln

Ich wohne mit meiner Freundin und meinen zwei Söhnen in der Kyffhäuserstraße. Die Kyffhäuserstraße ist so was wie Simon-Dach- und Wrangelkiez in einen Pott schmeißen und dann aber noch kölsch-bürgerliche Folklore mit rein. Wir wohnen über einer Kneipe namens „Mannis Rästorang“.

Auf der Kyffhäuserstraße findet man die Spuren von insgesamt drei Party-Epochen. Die 70er, in denen die Kneipen „Rästorang“ oder „Engelbät“ hießen; die 90er mit Kneipennamen wie „Furchtbar“, „Tanzbar“ oder „Unsichtbar“; und die modernen Zeiten mit den Burger-Läden. Die heißen zum Beispiel „Freddys“ und drinnen gibt es rohe Betonoptik mit großen Glühbirnen und rustikalen Holztischen. In der „Furchtbar“ trinken die Junggesellinnenabschiedsfeierer dünnglasiges Kölsch, bei „Freddys“ sitzen die Krempelstrickmützen und finden die Bio-Burger „richtig gut“. Und jetzt kommt Karneval.

Der Karneval geht in Köln von Donnertag bis Dienstagnacht. Wir haben im Kinderzimmer ein großes Erkerfenster zur Straße. Wenn ich Donnerstagmorgen um 7 Uhr bei den Jungs die Rollos hochziehe, dann sind die ersten Karnevalisten schon unterwegs. Der Opa von gegenüber betrachtet sie auch. Frauen mit großen, lila Perücken. Männer mit „Swat“-Uniformen. Männer mit Ganzkörper-Stretch-Kostümen (neon), Frauen mit Bienen-/Kuh-/Frosch-Kostüm („sexy“, weil „süß“). Um 7 Uhr sind alle noch nüchtern und gehen einfach schnell dahin, wo’s Bier gibt. Auf der Arbeit oder an die Ecke, wo man sich mit den Anderen trifft.

Offiziell beginnt der Karneval bekanntlich um 11.11 Uhr, aber um halb zehn stehen auf der Kyffhäuser schon Grüppchen mit Bier zusammen.

Offiziell beginnt der Karneval bekanntlich um 11.11 Uhr, aber um halb zehn stehen auf der Kyffhäuser schon Grüppchen mit Bier zusammen. Seit drei Jahren sind besonders die „Retro-Tennis“ oder „Retro-Aerobik“-Gruppen-Kostüme beliebt. Das sind immer vier bis fünf Typen oder Frauen, die sich Neon-Stirnbänder umbinden und Stulpen und enge Leggings und Neon-Turnhosen. Oft sind das VWLer oder BWLer, noch viel häufiger sind es Studenten der Sporthochschule (Spoho), die sich intern für einen ziemlich dufte, weil fitten Haufen halten (geile Bodys und so, gehen pumpen). Zum Semesterbeginn ziehen die Spohos immer in Riesengruppen durch die Straße und brüllen Schlachtrufe wie in Full Metal Jacket. Einer ruft was, die Anderen antworten. Das soll allen klarmachen: "Wir Spohos machen immer richtig einen drauf, wir halten zusammen und sind insgesamt auch ganz schön verrückt. Zum Beispiel verkleiden wir uns zu Karneval als Aerobic-Typen aus den 80ern. Wir denken, wir machen uns mit so einem Kostüm lächerlich, aber gerade das ist uns ganz egal. Ganz schön albern und abgedreht, oder?" Naja.

Die drei Karneval-Eskalationsstufen

Die Neon-Gruppen vor unserem Fenster sind um zehn schon sehr laut, weil betrunken. Die Frauen quietschen dann schon viel, die Männer haben kehlig-tiefe Lärm-Stimmen und wippen oft mit einem Bein (breitbeinig). Die Ersten müssen pinkeln und gehen in die Hauseingänge. Man sieht sie von hinten, die Pisse läuft zwischen ihren Beinen durch, sie unterhalten sich, die Frauen stehen auf der Straße und müssen eigentlich auch, schämen sich aber noch zu sehr. Zwei Stunden später hocken sie dann zwischen den Autos. Ich nenne das die „1. Karneval-Eskalationsstufe“. Jetzt ist es kurz nach 10.

@ Matze Hielscher

Die Kyffhäuserstraße ist „glasfrei“. Kurz vor Karneval schickt die Stadt immer einen Brief an alle Bewohner. Auf dem Umschlag sind Konfetti und Luftschlangen. Wenn die städtischen Briefschreiber ehrlich wären, würden sie Kotze- und Pisse-Bilder drauf drucken. Kein einziger Bewohner dieser Straße denkt bei Karneval an Luftschlangen und Konfetti. Alle denken an Kotze. In dem Brief steht, dass Feiern „sicher sein“ soll. Deswegen sind Glasflaschen verboten. Am Anfang der Straße und vor unserem Fenster stehen dann drei Tage lang Ordner neben einer großen Mülltonne. Die sollen die Party-Leute auffordern, die Flaschen abzugeben und ihr Bier in Plastikbecher umzufüllen. Meistens schreiben die Ordner aber SMS.

Kein einziger Bewohner dieser Straße denkt bei Karneval an Luftschlangen und Konfetti. Alle denken an Kotze.

Um 14 Uhr ist die Kyffhäuserstraße voll. Richtig voll. So voll wie in einer Konzerthalle. Man kann den Straßenboden nicht mehr sehen, weil so viele Menschen sich drängeln. Alle kostümiert. Alle besoffen. Wer jetzt mit dem Auto weg will, muss zuhause bleiben. Wenn ein Auto sich aus Versehen in die Straße verirrt, wird es von der Menge angehalten. Leute tanzen auf der Motorhaube, Leute öffnen den Kofferraum. Ich stehe mit meiner Familie am Fenster und wir besprechen die Szene. Mein älterer Sohn (6) erkennt Spidermans, Batmans und Darth Vaders. Mein jüngerer Sohn (2) erkennt Krokodile, Kühe und Bienen. Meine Freundin fragt, wie jedes Jahr, was für ein Selbstbild Leute haben, die sich zu Karneval Army-Uniformen und GSG9-Kostüme anziehen. Es sind sehr viele, die als irgendwas Bewaffnetes gehen. In diesem Jahr sind aber Spielzeugwaffen verboten, wegen „Köln und die Folgen“ und um die „Flüchtlinge nicht zu ängstigen“.

© Christian Müller / Shutterstock

Menschen übergeben sich, Menschen fummeln mit Pilot und Bärenkostüm in den Hauseingängen

15 Uhr, Karneval-Eskalationsstufe 2 erreicht. Menschen übergeben sich, Menschen fummeln mit Pilot und Bärenkostüm in den Hauseingängen. Mein jüngerer Sohn imitiert Kotz-Geräusche und blickt dabei mitleidig auf eine sitzende Frau, die ständig zur Seite kippt. Freundinnen stützen sie, aber finden die ganze Situation auch lustig. Männer kommen vorbei und grölen, einer hebt ihren im Schoß hängenden Kopf hoch, die Augen sind geschlossen, der Mund ist halb offen, er lässt den Kopf wieder fallen. Wie Oktoberfest nur eben alles mit Verkleidung. Zwischen den ganzen Kostüm-Uniformen patrouillieren echte Polizisten. Einer kommt und spricht die Gruppe an, ohne sich aber genauer um die Ohnmächtige zu kümmern. Das soll das mobile Rotkreuz-Team machen. Drei Sanitäter, einer mit großem Rucksack. Vom Fenster sehen wir, wie sie weit hinten versuchen sich vorzukämpfen. Aber sie müssen an der Boombox vorbei.

Ein Blick aus Sebastians Zimmer © Sebastian Wellendorf

Die Boombox ist seit drei Jahren neuer Karnevalsbestandteil und in der Kyffhäuserstraße beliebt. Ein Typ (Neon-Aerobic-Spoho-DJ) hat einen Einkaufswagen mit einer dicken Anlage ausgerüstet. An der Seite sind zwei Riesenlautsprecher, oben drauf ein Laptop. Aus den Boxen dröhnt dicker Boombap-Hip-Hop, was alle cool finden, weil Alternative zu den kölschen Hits. Um die Boombox sammelt sich ein großer, tanzender Party-Pulk. Wenn ich nicht so kritisch eingestellt wäre, fände ich diese Idee ganz gut. Mal was anderes, mal was Spontanes. Aber wenn dann Verkleidete auf den Wagen klettern und zur Musik twerken, wird’s leider wieder blöd.

Je lang anhaltender der Tür-Klingelton, desto intensiver der Sex im Hauseingang

In unserer Wohnung ist es jetzt so laut, dass es sich nicht lohnt, Musik zu hören oder Fernsehen zu schauen. Der Lärm wird bis in die Nacht anhalten. Und es wird oft an der Tür klingeln. Das sind Paare, die im Hauseingang knutschen (und mehr) und dabei versehentlich die Klingel betätigen. Je lang anhaltender der Tür-Klingelton, desto intensiver der Sex im Hauseingang. Für mich Karneval-Eskalationsstufe 3, weil ich mir immer die besoffenen Paare bumsend im Hauseingang vorstelle.

Ich wohne aber trotzdem gern in dieser Straße. Ich hatte bislang nicht das Bedürfnis, mit meiner Familie an den Stadtrand zu ziehen. Wir brauchen kein Auto, alles ist nah. Meine Kinder grüßen die hier suchenden Flaschensammler, sie erkennen, wenn einer betrunken ist und reagieren angemessen. Ich finde das gut. Ob in diesem Jahr alles ganz anders wird? Viele wollen nicht feiern gehen, hab ich gehört. Wegen „Köln und die Folgen“. Ich werd am Fenster stehen und das beobachten. Wie der Opa von Gegenüber.

Der Autor Sebastian Wellendorf ist der ehemalige Mitbewohner von Matze. Er lebt seit ein paar Jahren mit seiner Familie in Köln und ist Reporter beim WDR.

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