So wirst auch du endlich Minimalist – Eine ehrliche Anleitung in 11 Schritten
Neulich war ich in der Buchhandlung in meiner Lieblingsabteilung: "Lebenshilfe & Ratgeber". Hier fühle ich mich gut und sicher. Es gibt kein Problem, für das es nicht ein helfendes Buch gibt und sie alle haben herrlich motivierende, konstruktive und augenzwinkernde Titel. Gut, manche drücken auch ein bisschen auf die Tränen- und Dramadrüse, aber so ist es eben, das Leben! Ein Auf und Ab, hach, so kunterbunt und wundervoll. Verzeihung, ich werde zynisch.
Jedenfalls: Großer Trend bei den Ratgeberbüchern derzeit ist das Thema "Minimalismus". Entrümpeln, aufräumen, Sachen loswerden, inneren und äußeren Ballast abwerfen. Es gibt verschiedene Methoden, aber sie alle folgen ungefähr dem gleichen Prinzip. Lage sondieren, verschiedene Häufchen machen, angenehm radikal zur Tat schreiten und so weiter. Am Ende erstrahlt man selbst, die eigene Wohnung, ja das ganze Leben wieder blütenweiß, rein, sauber, leicht und frei. Toll, diese Psychohygiene. Also, theoretisch. Diese blumigen Anleitungen sind ja nur Verkaufsstrategie. Wenn irgendeiner dieser Lifestylegurus mal Klartext reden würde!
Denn in Wahrheit geht es bei Minimalismus nicht darum, sich zu fragen, ob man wirklich seine Sammlung von Porzellanenten auf der Fensterbank braucht und innig liebt, sondern um die ganz elementaren Säulen des Alltags. Makro-Minimalismus sozusagen. Wer es ernst meint mit dem reduzierten Leben, muss große, radikale Schritte machen. Hier 11 Tipps, wie dein großes, kompliziertes Leben ganz einfach einfach wird:
Tipp 1: Ziehe oft um
So einfach, so effektiv. Wer regelmäßig seinen kompletten Besitzstand in Umzugskisten, Tragetüten und Müllsäcke verstauen, tetrismäßig in einen Transporter laden und am Ziel angekommen wieder mehrere Stockwerke hochschleppen muss, wird freimütig und leichten Herzens alles wegwerfen, was er nicht am Leibe trägt. Empfohlene Frequenz: Mindestens drei Umzüge pro Jahr.
Tipp 2: Sei pleite
No money, no problems: Wer kein Geld hat, kann's auch nicht ausgeben und vermeidet damit das unnötige Anhäufen von materiellem Groß- und Kleinkram. Um beständig pleite zu bleiben, empfiehlt sich zum Beispiel eine zu große Wohnung, ein altersschwaches Auto oder Heroin. Letztgenanntes war natürlich nur ein Spaß, Kokain ist viel teurer.
Tipp 3: Arbeite zu viel
Zeit ist Geld und Geld ist Zeit und wer von beidem nichts hat, kann auch nichts kaufen. Toll, oder? Wenn man einmal das System verstanden hat, minimalisiert sich der Alltag quasi wie von selbst. Wer komplett überarbeitet mit dreispurigen Augenringen nach Hause kommt und zur Beruhigung noch ein bisschen bei ASOS browst, schläft bei korrekt ausgeführtem Burn-Out ein, bevor er überhaupt auf "Zur Kasse gehen" klicken kann. Astreiner Spartipp, bitte, gern geschehen.
Tipp 4: Bleib Single
Nimm dich in Acht vor diesen tückischen Schmetterlingen im Bauch. Kaum hat dich Amors Pfeil getroffen, wirst du plötzlich schwach und nachlässig, kaufst Geschenke, bekommst welche, willst vielleicht sogar irgendwann ein gemeinsames Nest bauen und dir den Maximalismus-Brandbeschleuniger schlechthin zulegen, nämlich ein Kind. Besser also, du hütest dein kleines Herz und trägst es in einer schusssicheren Weste mit dir herum.
Tipp 5: Vermeide soziale Kontakte
Neben der Gefahr vor amourösen Verstrickungen sind soziale Kontakte allgemein der Feind eines jeden echten Minimalisten. Ständig muss man etwas gemeinsam konsumieren, von Kaffee bis Kunst, ein Kinoticket hier, eine Brause dort und am Ende kehrt man zurück mit den Taschen voller Pfand, Altpapier oder im spontanen Freundschaftstaumel erworbenen Hundewelpen – und das kann ja nun wirklich keiner wollen. Besser: Nach und nach die Freunde strangerzonen, das bedeutet, sie wieder zu den Fremden zu machen, die sie waren, bevor du sie kennengelernt hast. Dazu einfach nicht mehr melden und sie bei überraschenden Begegnungen auf der Straße siezen.
Tipp 6: Vermeide Hobbys
Eine noch schlechtere Konsumbilanz als Freunde haben Hobbys. Sie führen nämlich über kurz oder lang dazu, dass man sich mit themenspezifischer Ausrüstung eindecken möchte. Beispiel Laufen: Entgegen dem landläufigen (no pun intended) Gerücht, man müsse sich nur schnittiges Schuhwerk anbinden und könne sogleich leichtfüßig dem Runner's High entgegen hüpfen, braucht man dazu noch ein Smartphone, um seine Laufstrecke bei Facebook zu posten, eine Halterung für den Oberarm, um das Smartphone mitzuführen, eine schnieke Laufjacke für obendrüber, weil die Armhalterung für das Smartphone bescheuert aussieht und so weiter. Kurz: Material, Material, Material. Ein sehr gutes, minimalismustaugliches Hobby hingegen ist Liegen. Einfach auf dem Rücken liegen und nichts tun, zum Beispiel auf dem Sofa. Fortgeschrittene lassen die Unterlage weg und liegen einfach auf dem Boden. Laufen geht überall? Liegen auch. Boom.
Tipp 7: Iss' weniger
Packen wir das Übel doch gleich bei der Wurzel, denn Minimalismus fällt dort am schwersten, wo es an die Grundbedürfnisse geht. Essen zum Beispiel hat sehr oft zur Folge, dass wir uns mehr als eigentlich nötig damit befassen, Geld und Zeit dafür aufwenden und am Ende vor einem überquellenden Gewürzregal stehen, wo vier verschiedene Sorten bunter Pfeffer herummodern. Deshalb: Sautierpfanne, Fleischwolf, Julienne-Schneider? Weg damit. Salzstreuer, Suppenkelle, Besteck, Teller? Braucht kein Mensch. Kauf dir dreimal täglich beim Bäcker ein Brötchen (ohne Tüte, wegen zero waste!). Gegen die eventuell aufkommende Langeweile sorgen dann schon die Symptome deiner Glutenintoleranz von ganz allein.
Tipp 8: Schlafe so viel wie möglich
Wer schläft, sündigt nicht. Noch besser: Wer schläft, kauft, konsumiert und produziert nichts. Luft rein, Luft raus. Wer also Schwierigkeiten hat, zu viel zu arbeiten, dem sei eine 80-Stunden-Woche voller Schlaf ans Herz gelegt. Denk daran, elektronische Geräte und die Heizung dabei auszuschalten, das spart zusätzlich Energie und Kosten. Und dass zwischen Oktober und März durchgängig Winterschlaf angesagt ist, muss ich ja nicht extra erwähnen, oder?
Tipp 9: Finde dein minimalistisches Spirit Animal
Jeder braucht gute Vorbilder. Wo in gängigen Ratgebern immer wieder von den karg ausgestatteten Wohungen in Japan geredet oder Aufräumprofi Marie Kondo über den Klee gelobt wird, sind vor allem im Tierreich erstaunliche, minimalistische Lebenskünstler unterwegs, die noch viel bessere Vorbilder für uns sein können. Bärtierchen zum Beispiel. Die sehen nicht nur knuffig aus, sondern können auch ein paar Tage ohne Sauerstoff und mehrere Jahre ohne Nahrung auskommen. Sie sind quasi unzerstörbar und das bei minimalem Verbrauch von eigentlich allem. Bete zur Inspiration dreimal täglich ehrfürchtig in Richtung Bärtierchen.
Tipp 10: Fang' jetzt sofort an
In egal welches Fachbuch man schaut, an keiner Stelle wird man den Tipp finden: "Warte noch ein bisschen. Das hat Zeit. Nimm dir erstmal einen Keks." Nein, voran, voran! Jetzt, sofort, gleich! Vorsprung durch Hektik. Wir wollen doch möglichst schnell die positiven Auswirkungen des Minimalismus auf unsere überfrachtete Existenz spüren, nicht wahr? Deshalb schließe ich mich in diesem Punkt an: Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, um mit dem neuen Lifestyle anzufangen als genau in diesem Moment. Leg dich hin, schalte alles ab, rasier dir vielleicht nochmal die Haare, kämm dir die Augenbrauen aus dem Gesicht oder putz dir wenigstens die Zähne, du liegst jetzt eine Weile.
Tipp 11: Lerne, die Leere zu lieben
Und, wie ist es so? Liegst du gut? Fein. Deine ohnehin schon viel zu große Wohnung ist mittlerweile so leer wie dein Konto, irgendwo hallt das Summen einer Stubenfliege. Fang an, dieses Gefühl zu genießen, die Leichtigkeit. Spürst du sie schon? Die Euphorie? Du bist jetzt frei. Nichts und niemand hält dich, du hast keine Freunde, keinen Partner, keinen Job, kein Geld. Leichter wird's nicht, die Welt steht dir offen – vorausgesetzt, du schaffst es bis zur Tür. Die strenge Brötchendiät hat dir womöglich zugesetzt. Für den letzten finalen Schritt denken wir aber nochmal an unser Krafttier, das Bärtierchen. Es hält mindestens 5 Tage ohne Sauerstoff aus. Wie viele schaffst du?