So kann sich das Leben mit Mitte 30 anfühlen

Vor Kurzem hat Milena hier einen Artikel über das Leben mit Mitte 20 geschrieben. Er beginnt mit der Feststellung: "Wäre ich ein Optiker, Friseursalon oder Elektrofachgeschäft, wurde ich dieses Jahr groß Jubiläum feiern. Mir eine Schärpe umhängen und jeden an meinem Alter teilhaben lassen. Doch ich bin weder ein Geschäft, noch feiere ich mich jemals wirklich selbst. Erst recht nicht mit 25."

Mit Mitte 30 habe ich auch noch nie das Gefühl gehabt, mir eine Schärpe umhängen zu können und mich und mein Leben zu feiern. Auch wenn ich eine Firma habe und dort meine Leidenschaft Beruf geworden ist, auch wenn ich glücklich verheiratet bin und unser Sohn in seinen ersten Sneakern super lässig aussieht. Auch wenn ich in einer schönen Wohnung jeden Morgen ohne Leiden aufwache.

Das Zwicken geht nicht weg

Das Gefühl, den kompletten Kleiderschrank wegschmeißen zu wollen und mal wieder ganz neue Sachen einzukaufen, bleibt. Der Wunsch, die Welt aus mindestens 10 Perspektiven zu betrachten und das nicht nur durch einen Bildschirm hindurch, auch. Aber wenn man das mit 25 nicht macht, macht man es mit 35 erst recht nicht.

Also haltet euch ran ihr Jüngeren.

Ich habe mich lange über diesen Unruhezustand geärgert, doch irgendwann begriffen, dass er zu mir gehört. Ich bin jetzt viel weniger damit beschäftigt, mich einzuordnen, abzugrenzen und zu vergleichen. Die Teenieband Echt hat mal gesungen, dass sich alles ändert, wenn man groß ist. Doch was ändert sich? Die Geburtstage werden ab 30 kleiner gefeiert und die Reisen pauschaler gebucht. Bevor ich heute auf ein Konzert gehe, schaue ich erst, ob das Wetter gut ist und die Bahnverbindung passt. Na gut, ganz so schlimm ist es nicht. Aber wenn um mich viel geraucht wird, dann ärgert mich das jetzt mehr. Ich kaufe weniger als früher, dafür teurer. Auf den Kassenzetteln steht jetzt nicht mehr LIDL, sondern Bio-Company drauf. Drinks trinke ich in einer Bar und nicht am Späti. Jemand hat mal gesagt, dass man erwachsen ist, wenn man den Wirtschaftsteil der Zeitung liest. Und genau das mache ich, wenn ich am Wochenende die Beine übereinander schlage, mir die Wochenzeitung zurecht lege und dazu einen Whisky trinke. Ich lese zuerst den Wirtschaftsteil. Und ich finde das gut so.

Es fällt mir mit Mitte 30 schwer zu sagen, dass ich erwachsen bin.

Dennoch fällt es mir mit Mitte 30 schwer zu sagen, dass ich erwachsen bin. Sogar schwer zu sagen, dass ich ein Mann bin. Obwohl Kind, Kegel und der Wirtschaftsteil ja Beweis genug dafür sind. Warum ist das so?

Ich glaube, dass dieses nicht Erwachsensein-können-Gefühl daherkommt, dass wir uns nicht mit den Generationen davor vergleichen können. Wir sind die Generation, die einen permanenten Wandel durchlebt. Wir befinden uns in einer ständigen Transformation und können niemanden um Rat fragen, weil unser Vokabular ein ganz Neues ist. Wir erleben aus nächster Nähe, wie alle Bereiche digital durchgeschüttelt und runtergekippt werden und als etwas völlig Neues herauskommen.

Wir können uns nicht mit den Generationen davor vergleichen

Für meinen Vater war es ein erfolgreicher Tag, wenn er einer Familie ein Dach über den Kopf gebaut hat. Für mich ist es ein erfolgreicher Tag, wenn eine unserer Geschichten viral gegangen ist. Mein Vater kennt das Wort gar nicht. Viral. Er hat noch nie etwas gelikt oder geteilt – sein Social Network sind seine Arbeitskollegen. Natürlich gab es das schon immer, dass Kinder etwas ganz anderes als ihre Eltern gemacht haben. Wenn ich Chemie studiert hätte, könnte mein Vater die Laborarbeit wohl auch nicht nachvollziehen. Aber wir können auch sonst niemanden um Rat fragen. Es ist sogar eher so, dass wir gefragt werden, wie neuen Dinge funktionieren. Da stehen 30-Jährige vor Konzernchefs und erklären die Welt des kleinen Kastens, den sie immer in der Tasche haben. Mit 30 wird man in Agenturen zum Senior ernannt. Aber sind Senioren nicht die, die in Rente gehen?

Mit 30 wird man in Agenturen zum Senior ernannt. Aber sind Senioren nicht die, die in Rente gehen?

Männer und Frauen (ich wollte Jungs und Mädchen schreiben) stehen in meinem Alter an vielen Stellen hilf- und vorbildlos da. Denn es gibt keine Erfahrungswerte, keinen geübten Umgang, von dem wir zehren können. Mein Vater trägt Arbeitsstiefel und einen Helm, um sich zu schützen. Er kann ein Brett auf den Kopf bekommen, vom Dach fallen, sich einen Nagel in die Hand schlagen. Das ist völlig nachvollziehbar. Wir bekommen einen Burn Out, googeln das Wort Panikattacke und fragen uns, ob unser leerer Blick schon eine Depression ist. Unsere Verletzungen sind nicht sichtbar. Ein Airbag, eine Leitplanke oder eine Geschwindigkeitskontrolle gibt es nicht. 

Ab 30 fängt man an, sich für Marathons zu interessieren

Auf der anderen Seite – ich weiß nicht, ob es am gesunderen Lebensstil oder am Alter liegt –, mit Mitte 30 habe ich mehr Energie als mit Mitte 20. Ich wache (auch wenn mein Sohn mich schlafen lässt) früher auf und gehe später ins Bett. Dazwischen können tausend Dinge passieren, die mich fordern und angenehm erschöpfen. Im Urlaub kann ich ohne Probleme abschalten. Sogar das Handy. Schafft ihr unter 30-Jährigen das?

Gespräche mit 'Weißt du noch' muss man dringend meiden.

Ein anderes Ding ist Sport. Ab 30 fängt man wohl an, sich für Marathons zu interessieren. Vielleicht ist das so ein generelles Ding für Familienväter und Senior-Manager – neue Herausforderungen und so. Dreimal die Woche laufe ich durch Berlin, dazu ein bisschen Dehnen am Morgen und Pilates am Abend. Gleichaltrige Freunde, die vor 5 Jahren jedes Wochenende die Nase in alles reingesteckt haben, was high macht, leben ihre neue Sucht jetzt auf dem Laufband aus. Eigentlich ganz gut, aber auch ein bisschen sehr vernünftig. Schlimm wird es aber erst, wenn dann lang und ausführlich von "Früher" gesprochen wird. Gespräche mit "Weißt du noch" muss man dringend meiden.

Durch den Sport habe ich aber auch neue Leute kennengelernt und daraus haben sich Freundschaften entwickelt. Während das Leben auf Social Media bei allen immer gleich super fantastisch aussieht, reichen jetzt zwei gemeinsame Kilometer oder ein halber ABC-Saft in der "Juice-Bar" und schon schüttet man sich das Herz aus. Das ist eine schöne Entdeckung des Älterwerdens: Man dringt schneller zum Kern hervor. Man ist ehrlicher zueinander, labert nicht mehr so viel um den Brei herum. Heute verbindet nicht mehr die Herkunft, der Beruf oder der Musikgeschmack, sondern ein generelles Verständnis füreinander. Denn Verständnis suchen wir mehr als alles andere. Und von wem können wir sonst lernen gute Chefs, Ehemänner und Väter zu sein, wenn nicht voneinander?

Meine Frau kommt rein und liest über diesen Artikel. "Das klingt aber negativ. Geht es dir gut?". Ja, mir geht es gut. Keine verpassten Chancen, dafür: gute Freunde, gute Frau, gutes Kind und zu viele Ideen. Nur ein bisschen zu vernünftig vielleicht. Aber das hat man mir mit 25 auch schon nachgesagt.


Und so kann es sich anfühlen Mitte 20 zu sein.

Titelfoto: © Matze Hielscher

Zurück zur Startseite