Meine unverstandene Liebe: Island

© Charlott Tornow

Island ist unbarmherzig. Ein schrecklicher Ort, unten, im Süden, ist es so feuchtkalt, dass Popel an den Nasenlöchern festfrieren. In der Mitte, so tödlich wie schön. Touristen, die unachtsam mit ihren gemieteten VW Polos dorthin fahren, werden verschluckt und nicht wieder ausgespuckt. Einfach verschlungen, von diesem Land. Der Norden, er ist so einsam, so kalt, die Nähe zu Grönland, zum Ende der Welt, ist mit jedem eisigen Atemzug spürbar. Und der Westen, da legen nur die Schiffe aus Europa an. Dort Leben Verrückte, in Häusern, die, wenn sie sprechen könnten, einsilbig in einer baumlosen Landschaft stehen.

Die Menschen in diesem Land sind garstig, mögen keine Touristen, finden Einwanderer doof, sind gemein. Gesprochenes Isländisch, es klingt immer wie fluchen, wie meckern. Und diese Menschen, sie sehen auch noch schön aus. Mit ihren kräftigen Körpern, ihren großen, flach am Kopf anliegenden Nasen, ihren feinen blonden Haaren.

Und dann sind da noch die Preise, für alles. Alles ist unverschämt teuer.

Und dennoch, ich liebe Island. Dieses Land, dass mich gestern zum ersten Mal in meinem Leben ein Fußballspiel sehen lassen hat. Mit Begeisterung. Ich überlege, ob ich für Sonntag, wenn Island gegen Frankreich spielt, sogar Schminke auf meine Wangen mache.

Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, der so einfach zu erreichen ist, um sich verloren zu fühlen.

Ich habe in meinem Leben fast 80 Länder besucht, aber keines hat mich so nachhaltig beeindruckt wie Island. Zum ersten Mal war ich 2005 dort, eher zufällig. Mein Vater gab mir Jules Verne mit. Und ich las, parallel zur Landschaft, die am Fenster meines Busses vorbeizog. Eine Landschaft, die ich gerne als hässlich beschreibe. Geröll und Vulkane haben dieses Land hingerotzt. Mühsam wächst der Klee zwischen Tuff. Der Mensch hatte bis lang kaum Zeit, diese Landschaft zu plätten, zu planieren, zu bebauen. Es leben hier viel zu wenig Menschen. Und sie beheizen lieber ihre Gehwege, als dass sie ihr Land zerstören. A

Allerdings ist Island nicht hässlich wie zum Beispiel das Bauland vor dem Alexa. Island ist natürlich spektakulär. Aber das nutzt sich ab. Wiesen, Pferde, Berge, nach einer Woche, nach einer Rundtour um Island könnte man eigentlich sagen: Reicht, habe ich gesehen, Haken hinter.

Aber Island sitzt tief in den Köpfen derer, die es besucht haben. Und für mich steht die Natur an zweiter Stelle. Für mich gibt es einen anderen Grund, warum ich Island so liebe.

Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, der so einfach zu erreichen ist, um sich verloren zu fühlen. Jedes Jahr besuche ich ihn, wenigstens ein Mal. Und ich mache nichts besonderes. Ich miete mir ein Auto bei Sadcars, einer Firma, die nur alte und kaputte Wagen im Angebot hat, dafür aber günstige. Ich fahre durch Reykjavik, trinke Cappuchino im Café Solon. Und fahre Richtung Borganes. Dort gibt es eine Tankstelle, mit einem Blick auf den Ursprung der Welt. So stelle ich ihn mir vor, den Moment, als die Fische das Wasser verließen. Und ich sitze da, esse Mist, weil es in Island fast nur schlechtes Essen gibt. Und Lakritze. Und bin still. Bleibe so lange in der Tankstelle sitzen, bis die Kleidung nach Bratfett riecht und mein Mund ganz trocken vom Nichtreden ist. Nirgendwo auf der Welt kann ich an einer Tankstelle still sitzen. Ich frage nicht nach dem Wifi-Passwort, Empfang habe ich keinen, ich lese nicht mal. Ich gucke nur aus dem Fenster. Beobachte Möwen, wie sie Autos aufs Dach kacken, sehe Rentner, deren Dauerwellen vom unbarmherzigen Wind zerzaust werden. Beobachte die rotwangigen Isländer, die stoisch durch den Regen laufen und Eis essen.

Stille ist das Kostbarste, dass wir haben. Nicht die Eigentumswohnung.

Es ist still, in diesem Land. Und Stille ist das Kostbarste, das wir haben. Nicht die Eigentumswohnung, die Frau, die Kinder, das Geld, der Beruf, die Freunde, die Comic-Sammlung. Es ist Stille. Und hier gibt es sie im Überfluss. Vermutlich lässt sich in diesem Land sehr gut laut Brüllen üben, nur so erklärt sich mir der martialische Bu-Bu-Bu-Ruf der Isländer während des Fußballturniers. Und diese Freude der Isländer. Wunderbar. Ich sehe sie im Stadion – ganz anders als in Island. Die Geschichte düster und traurig, erst seit 120 Jahren geht es den Isländern einigermaßen gut. Davor: tiefstes Mittelalter, Armut und Dreck. Und heute? Wirtschaftskatastrophe, Touristen, die sich nicht benehmen und Islandpony sagen. Die AUF Island sagen. Schlimm. Macht man nicht, das heißt: IN Island.

Hier gibt es so wenig, worüber sich freuen lässt, dass 11 Männer aus Island knapp 350.000 Menschen in Ekstase versetzen. Und einen Fußballkommentator, der fiepsend seine Freude äußert. Isländer fahren gerne mit dem Auto, sie erleben viel Dunkelheit und tragen wirklich diese kratzende Pullover. Das Erreichen eines Viertelfinales, es muss sich sensationell anfühlen, weil es einfach kaum etwas gibt, dem der Isländer zujubeln kann. Außer Schafen, Pferden und verschwurbelten Musikern.

Dort, wo keine Menschen sind, wird die Stille laut. Der Wind, der über die Berge zieht, das Meer, das viel zu kalt ist, dass gegen die Felsen schlägt, die traurigen Möwen, ja selbst die Flechten und Moose rauschen in meinen Ohren.

Thilo in Island © Thilo Mischke

Island ist die Frau, die ich nie haben konnte, der Traum, der sich nie erfüllen wird. Dieses Land, in dem ich nie leben könnte, dieses Land, die Menschen, die mir immer verschlossen sind. Ich kämpfe mich durch die nasse Landschaft, durch die gelben Grashalme – und fühle mich immer fremd. Nach über 15 Besuchen in diesem Land muss ich die Landschaft nicht mehr sehen, ich will einen Zustand entdecken, der mich wohlfühlen lässt. Angekommen. Und ich schaffe es nicht. Das ist eine Meisterleistung dieses Landes. Weil sich dieses Land mir nicht erschließt, weil ich keine Nähe, sondern nur Abweisung empfinde, kämpfe ich. Eben genau so, wie bei der Frau, die ich nicht bekommen kann.

Aber ich versuche es, jedes Jahr aufs Neue. Und ich werde es auch weiter versuchen. Und wenn ich zum ersten Mal im Leben dafür Fußballfan werde. Das ist es Wert.

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