Haben wir eigentlich alle ein Alkoholproblem?

© The Family Stone

"Im Totenschein steht als Todesursache 'natürlicher Tod'. Ehrlicher wäre gewesen: 'Herr Schottner hat sich zu Tode gesoffen und keiner hat es gemerkt'". Das erzählt Dominik Schottner in seiner preisgekrönten Reportage über seinen alkoholkranken Vater, der vor zwei Jahren starb. "Zu Tode gesoffen"– das klingt brutal, düster und roh.

Szenenwechsel. Der Instagram-Account der 25-jährigen Französin Louise Delage sieht aus wie aus dem Generation-Y-Lehrbuch: Schaut euch nur mein schönes Leben an! Dazu ein kleines Bier im Sonnenschein, Vino zum Dinner mit Freunden, am Strand mit einem Gläschen Sekt. Auf fast jedem ihrer Fotos sieht man die junge Frau mit Alkohol in der Hand, ganz beiläufig und nonchalant. Dabei heißt Louise gar nicht Louise und die Szenen auf den Bildern sind inszenierte Fotos, denn sie ist das Gesicht der französischen Aufklärungskampagne "Addict Aide", die mit der Aktion für Alkoholismus im Alltag sensibilisieren will.

Ein von Louise Delage (@louise.delage) gepostetes Foto am

Zwischen Louise und dem Vater von Dominik Schottner liegen viele Lebensjahre und Lebensentscheidungen. Die einzige Verbindung heißt: Alkohol. 

Die Faktoren, die darüber entscheiden, ob jemand alkoholsüchtig wird oder nicht, sind natürlich individuell. Aber die äußeren Anzeichen sind gar nicht so leicht zu decodieren, besonders nicht in einer Gesellschaft, in der Alkohol das beliebteste soziale Gleitmittel ist. Und in einer Generation, in der Hedonismus, Lebensfreude und "Living for the Moment" untrennbar verknüpft sind mit dem Konsum von augenblicksverschönernden Substanzen. Hashtag: Yolo.

Ein bisschen Süchtigsein ist Teil der Inszenierung und das daraus entstehende Schuldgefühl wird lustvoll genossen als spürbarer Widerstand gegen die Worte unserer konservativen Eltern. "Trink nicht so viel!", haben sie gesagt, aber zu dem Zeitpunkt haben wir ihnen schon längst innerlich zugeprostet.

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Unser junger, schöner Alkoholismus ist ein ganz anderer.

"Ich hab am Wochenende auch wieder ganz eindeutig zu viel gesoffen", konstatieren wir dann öffentlichkeitswirksam selbstkritisch am Montagmorgen – und meinen damit eigentlich: "Ich hatte richtig viel Spaß und nächstes Wochenende werde ich es wieder tun." Wenn man noch jung ist, ist man nämlich kein Alkoholiker, das wird man erst im Alter. Die Fahne am Morgen mit starken Kaugummis überdecken, Vodka in die Mineralwasserflasche füllen, kurz vor Ladenschluss bei Kaiser's noch einen Korn, ein paar Flaschen Bier und einen ablenkenden Fleischsalat aufs Kassenband legen – das machen wir nicht. Unser junger, schöner Alkoholismus ist ein ganz anderer.

Unser Alkoholismus hat weiße Zähne und ein strahlendes Lächeln, er macht Sport, isst Bowls statt Eimer zu trinken, spreizt den kleinen Finger vom Glas ab, könnte sogar noch Auto fahren, ganz bestimmt. Unser Alkoholismus ist feinperlig und sauber, benutzt Zahnseide, zumindest theoretisch, und rinnt durch unsere jungen, glatten Hälse, während wir lachen und blaue Lippen haben vom roten Wein.

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Wir könnten jederzeit auch ohne.

Unser Alkoholismus macht uns frei und mutig oder wenigstens gleichgültig. Solange wir trinken, wenn wir gut gelaunt und in Gesellschaft sind, ist jeder Rausch legitim. Es geht schließlich ums Gemeinschaftsgefühl, denn Alkohol wärmt ja, auch zwischenmenschlich. Unser Alkoholismus legt den Arm um fremde Schultern und genießt den Moment. Er dient uns für Memes und Gags und ist fast schon unser Boyfriend. Unser Alkoholismus kotzt nicht mehr so oft wie früher und ist deshalb schon ziemlich erwachsen. Er ist nicht gefährlich, denn er schmeckt gut und kostet viel, er ist eine Investition in den Moment.

Und vor allem ist unser Alkoholismus gar kein "-ismus", denn wir könnten jederzeit auch ohne. Könnten jede Familienfeier nur mit Mineralwasser überstehen, uns bei jedem Businessevent auch an Apfelschorle festhalten und im Club die Mate ohne Vodka trinken und genauso ausgelassen feiern. Den gemütlichen Abend mit Freunden bei Tee und unvergorenem Traubensaft genießen und auf's neue Jahr mit Orangensaft anstoßen, ohne Scham am Späti ein alkoholfreies Bier kaufen. Das alles wäre kein Problem und uns kein bisschen unangenehm. Oder etwa doch?

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