Deutschland umdenken – Mach es zu deinem Projekt
Als ich Teenager war, wurden viele meiner Freunde "rechts". Sie hörten nicht mehr Depeche Mode, sondern Störkraft. Im Schulbus erzählten sie stolz, dass ihr großer Bruder beim Anschlag auf das Asylantenheim in unserem Dorf dabei war und sein Baseballschläger dabei kaputt gegangen sei. Ich bin in einem kleinen Ort in Südbrandenburg aufgewachsen. Ganz in der Nähe wurde die nationalbefreite Zone gefeiert, bekamen rechte Parteien 20% der Wählerstimmen und ich wurde in der Disco verprügelt, weil ich ein Shirt einer "Zecken"band getragen habe. Ich konnte es nicht abwarten, so schnell wie möglich dieses Scheißkaff zu verlassen. Die rechten Jungs leben noch heute da.
Ganz bestimmt sind solche Geschichten auch im Norden, Süden oder Westen Deutschlands passiert. Ich habe mich lange gefragt, woran es liegt, dass gerade Menschen im Osten, die Jahrzehnte hinter einer Mauer leben mussten, die ihre Kinder aus Fernweh Rocco nennen, so fremdenfeindlich sein können. Meine einfache Antwort lautet: Ich glaube, dass diese Menschen Angst haben.
Viele kennen die Ferne nur durch Kreuzfahrten, Mallorca und Südtirol – Orte, an denen deutsch gesprochen wird und deutsche Werte verkauft werden. In den Nachrichten sehen sie Kriegsbilder aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – und jetzt kommen diese Menschen in ihr Dorf, in ihren ehemaligen Baumarkt. Es ist vielleicht das erste Mal, dass sie einen für sie andersfarbigen Menschen aus der Nähe sehen und sie sollen diesem Menschen helfen. Aus Erfahrung weiß ich: Es gibt in Ostdeutschland wenig Bewusstsein dafür, dass die Welt Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg auch unterstützt hat. Ich war zehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Natürlich wurden die Schulpläne verändert, aber die Geschichtslehrerin, die vorher staatstreu gelehrt hat, war noch immer die Gleiche. Wie soll sich das auch über Nacht ändern? Den zweiten Weltkrieg haben wir behandelt, in dem wir "Schindlers Liste" angeschaut haben. Das war's. Die Schuldfrage war schnell geklärt: Das war ja der Westen.
Seit Lichtenhagen hat sich nichts verändert
Wenn man mit dem Auto durch die Prignitz fährt, dann sieht man keinen Menschen auf der Straße. Die Einwohner leben noch immer hinter Mauern – ihre eigenen Mauern – und schließen ihre Türen ab, weil sie Angst vor Einbrechern haben. Logisch ist es nicht, aber es ist nun einmal so. Ich werde die sogenannten "besorgten Bürger", die in den letzten Wochen am Gartenzaun, Arbeitsplatz oder in den sozialen Medien "nur" mal ihre Meinung sagen, nicht in Schutz nehmen und ihre Meinung toleriere ich in keinster Weise. Ich glaube aber nicht, dass eine Ausgrenzung, wie es einige vorschlagen, ein nachhaltiger Weg ist. Das Krasse ist ja, dass sich seit den Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen vor 23 Jahren nichts am Weltbild geändert hat. Wie ist das möglich? Ich meine nicht die radikalen Häuseranzünder und perversen Kinderanpinkler. Ich meine die 40-jährige Supermarktkassiererin und den Elektromonteur. Obwohl die Arbeitslosenquote nach unten gegangen ist, fürchten sie, dass ein Fremder, der nicht ihre Sprache spricht, ihren Job wegnehmen könnte. Logisch ist das nicht, aber es ist nun einmal so. All diese Menschen als dumme Nazis abzustempeln ist mir zu einfach.
Natürlich sprechen wir hier nicht von einem Problem, was es nur in Ostdeutschland gibt. Da ich hier aber aufgewachsen bin, glaube ich, dass ich meine Heimat etwas besser verstehe, als andere Orte. Ich versuche es zumindest.
Wenn wir unser Land langfristig öffnen wollen, müssen wir alle handeln
In der vorletzten Woche ging der Hashtag #merkelschweigt durch die sozialen Medien. Deutschland hat darauf gewartet, dass unsere Kanzlerin etwas sagt, dass Mutti auf den Tisch haut. Sie hat es dann getan, zwei Tage später drangen Bewaffnete in ein Flüchtlingsheim bei Rostock ein. Ich erlebe gerade im Freundeskreis, dass Menschen wieder aktiv handeln, dass sie anpacken, unterstützen, sich organisieren. Dass sie ihre Fähigkeiten nutzen und eben nicht mehr darauf warten, dass Mutti etwas sagt. Die Zustände vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales sind nicht tolerierbar, aber die Untätigkeit unserer Regierung hatte den Effekt, dass wir gezwungen waren, etwas zu tun. Das ist eine wichtige und neue Entwicklung, denn in den letzten Jahren sind viele zu bequem geworden, sich über eine Online-Petition hinaus zu engagieren. In dieser Zeit müssen wir klar und deutlich sagen, wo wir hier stehen und diese Position leben. Nicht nur in den kommenden zwei Wochen, wenn dieses Thema die Facebook-Wall dominiert, sondern auch in den nächsten 23 Jahren, damit sich Lichtenhagen und Schlimmeres nicht wiederholt.
Mach es zu deinem Projekt
Es gibt wahnsinnig viel zu tun: Druck auf die Regierung ausüben, damit sie keine Waffen mehr sendet, Flüchtlinge – egal wie – unterstützen. Aber vor allem sollten wir die Weltanschauung unserer Mitbürger – denn das sind die "besorgten Bürger" ja auch – umprogrammieren.
Ich war vor ein paar Wochen in London und habe gesehen, wie die deutschen Kinder meines dort lebenden Freundes auf dem Spielplatz mit muslimischen, schwarzen und weißen Kindern gespielt haben. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe, dass diese Kinder keine Angst vor Fremden haben werden. In den Kinderbüchern meines Sohnes gibt es keinen türkischen Feuerwehrmann oder iranischen Helden und auf dem Spielplatz spielt er meistens mit seinen deutschen Freunden. Es wird Zeit, dass Kinderbuchautoren einen schwarzen Harry Potter erfinden, dass wir in den Tagesthemen einen syrischen Moderator sehen. Es reicht nicht, dass nur Tatortkommissar Nick Tschiller einen türkischen Partner hat. Auch wir bei Mit Vergnügen müssen inhaltlich viel mehr über unseren weißen Tellerrand blicken. Ich müsste eigentlich mit meinem Sohn nach Neukölln und Lichtenberg auf den Spielplatz und mit ihm nach Afrika reisen. Schulen könnten Patenschaften in ehemaligen Kriegsgebieten suchen, Spielzeug sammeln und im Unterricht mit ihnen skypen. Apropos Bildung: Ich glaube nicht, dass gebildete Menschen auf Kinder in der S-Bahn urinieren. An Supermarktkassen, Ämtern, Tankstellen, Flughäfen sollten Menschen sitzen, die unseren besorgten Bürgern einen Ausblick in die Welt zeigen. Am Flughafen in London saß eine Frau mit Kopftuch am Schalter – das habe ich hier noch nie gesehen. Warum eigentlich?
Wenn Deutschland wirklich das Land sein will, in dem die Welt zu Gast bei Freunden ist, dann dürfen wir nicht müde werden, die Welt nach Hause zu holen und sie den Menschen zu zeigen, die Angst vor ihr haben.
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Titelbild: © Matze Hielscher
Illustration: © Anneke Gerloff