Über Kevin und den Opferfeminismus

© Austin Guevara | Pexels

"[...] Und er hört nicht auf zu diskutieren. Als ob er mein Nein nicht gehört hat." Ich werde hellhörig. "Jede meiner Freundinnen hat das auch erlebt. Schlüssel in der Faust auf dem Nachhauseweg." Ich stell das Autoradio lauter. "Die Berührung in der S-Bahn war nicht aus Versehen. Und er sagt mir: 'Was traust du dich, so rauszugehen?'"

Ich höre "3 Sekunden" von Céline und Paula Hartmann das erste Mal im Auto auf dem Weg zu einer Familienfeier. Meine einer Sektlaune geschuldeten "Wildberry Lillet" von Nina Chuba Phase hat meinen Spotify-Algorithmus derart durcheinander gebracht, dass mir seither deutsche Rap- und R'n'B-Songs vorgeschlagen werden. Und dass ich dafür zu alt bin, erkennt man schon daran, dass ich "Rap- und R'n'B-Songs" schreibe.

Was weißt du davon?

Aber das hier ist anders, ich höre den Text und mein Körper reagiert. Es zieht sich alles zusammen, die Klimaanlage gibt ihr Bestes, aber ich schwitze. "Kleine Tropfen in mei'm Glas drin, Herz fängt an zu rasen. Sag mir, was weißt du davon?" Ich starre konzentriert auf das Amaturenbrett. Mein Freund, der am Steuer sitzt, bekommt von all dem nichts mit. Er findet den Beat gut, aber der Text, der mir gerade die Brust zuschnürt, löst in ihm nichts aus. Wie auch? "Sag mir, was weißt du davon?"

Weil ich noch nie von Céline und Paula Hartmann gehört habe, suche ich die beiden bei Instagram – und stelle fest, dass ich musikalisch so gar nicht up to date bin. Mehr als 15.000 Menschen haben den Beitrag zu "3 Sekunden" geliked, die Kommentare sind voller Herzen und Gedanken, die ich teile. Ich fühle mich seltsam verbunden mit all diesen Frauen, die ich nicht kenne.

Kevin erklärt die Welt

Und dann kommt Kevin*. Kevin fällt auf, weil sein Kommentar mit Abstand der längste ist. Allein im ersten Satz fallen die Wörter "narzisstisch", "als Opfer inszenieren", "erfundenes Patriarchat", "jammern" und "Eigenverantwortung". Ich lese ihn dreimal, weil ich es nicht fassen kann, dass Künstlerinnen, die über das von Männern ausgelöste Unwohlsein von Frauen im öffentlichen Raum singen, von einem Kevin gemansplained werden.

Weiter erklärt Kevin, dass die Zeilen, die bei mir und Tausenden anderen einen Kloß im Hals hinterlassen, "definitiv kein Alltag, sondern Einzelfälle" beschreiben, "die die wenigsten Frauen betreffen". Kevin weiß das, weil er eine Freundin hat. Noch bevor ich darüber nachdenken kann, wie es wohl sein muss, mit Kevin zusammen zu sein, fällt das Wort "Opferfeminismus" – und da platzt mir die sogenannte Hutschnur.

Im Club nicht aufgepasst, fuck, Augenkontakt. Dann 'ne Viertelstunde Talk, warum es mit uns nicht klappt.

Falls ihr euch jetzt fragt, ob ich ernsthaft einen ganzen Artikel basierend auf einem Kommentar auf Instagram schreibe, lautet die Antwort leider: ja. Wir müssen dringend über dieses Unwort sprechen. Kurzer Exkurs: Der Begriff des "Opferfeminismus" ist älter als ich Kevin schätze. Er entstammt den post- und antifeministischen Diskursen in den USA der 1990er-Jahre. Den sogenannten "Opferfeministinnen" wird vorgeworfen, Frauen als hilflose Opfer darzustellen, die sich nicht wehren können oder besser: wollen.

"Kleine Tropfen in mei'm Glas drin, Herz fängt an zu rasen". Das erste Mal war ich 21. Und ja, ich sage das erste Mal, denn es gab noch ein zweites Mal. Ich hatte Glück, beide Male ist nichts Schlimmeres passiert. Aber es hat dazu geführt, dass ich mich in Clubs unwohl fühle. Ich fühle mich auch unwohl, wenn ich im Sommer ein kurzes Kleid in der U-Bahn trage. Und wenn ich im Winter zu Rewe will und es ist schon dunkel, laufe ich an der Straße statt die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Das alles hat Gründe. Und diese Gründe liegen in den Erfahrungen, die ich nicht nur mit Céline und Paula Hartmann teile.

Haben wir die Wahl?

Während Kevin mir erzählt, ich solle mich doch bitte nicht als Opfer inszenieren, ergibt eine Umfrage von Plan International, dass mehr als ein Drittel der Teilnehmer Gewalt gegenüber Frauen als probates Mittel empfinden, um den eigenen Willen durchzusetzen. Die Beleidigung nach einer höflichen Abfuhr in der Bar, das Hinterherstarren auf der Straße, das aufdringliche Gespräch in der S-Bahn – das alles gilt nicht einmal als Gewalt.

Ich weiß nicht, was mich wütender macht: Dass ich und so viele andere Menschen (nicht nur Cis-Frauen for sure!) in so vielen Situationen ihres Alltages in eine unangenehme bis bedrohliche Lage gebracht werden. Oder dass es Kevins gibt, die uns diese Erfahrungen absprechen. Die uns erzählen, wir würden etwas inszenieren. Die behaupten, wir hätten die Wahl. "Und er sagt mir: 'Was traust du dich, so rauszugehen?'"

War so angezogen, dass es ihm gefällt. Gib mir nicht die Schuld, die geb' ich mir schon selbst.

Wir haben die Wahl, lange Hosen bei 32 Grad zu tragen, uns Armbänder zu kaufen, die K.-o.-Tropfen erkennen und im Dunkeln nur in Begleitung das Haus zu verlassen. Dann würden wir uns vermutlich sicherer fühlen. Sicherheit über Freiheit, oder war es andersherum? Wir können homosexuellen Paaren sagen, sie sollen sich in der Öffentlichkeit nicht küssen – aus Sicherheitsgründen. Wir können Schwarzen Menschen davon abraten, nach Sachsen zu fahren – aus Sicherheitsgründen. Wir können Frauen verbieten, in der First Row zu stehen – aus Sicherheitsgründen.

Es geht in dieser Debatte um das Wort "Opferfeminismus", nicht um Feminismus. Es geht darum, dass jeder Mensch das Recht hat, sich in der Öffentlichkeit frei bewegen zu können, ohne von anderen in eine unangenehme Lage gebracht zu werden. Ohne angestarrt oder angesprochen zu werden. Ohne als Einladung interpretiert zu werden. Ohne sich alle drei Sekunden umdrehen zu müssen, nachts allein im Dunkeln."Sag mir, was weißt du davon?" Ich wünsche mir, dass alle, die "nichts" antworten können, sich das zu Herzen nehmen.

 

*Name von der Redaktion nicht geändert, der heißt wirklich so.

Mehr Gedanken

Mein Kind hat das Beste verdient
Clint ist Vater und gibt sein Bestes, gut darin zu sein. Woran er dennoch immer wieder scheitert, erzählt in seiner Kolumne.
Weiterlesen
Kann man noch in Zoos gehen?
Unsere Autorin Xenia mag Tiere. Als Kind liebte sie es, in den Zoo zu gehen. Was sich verändert hat, erfahrt ihr im Artikel.
Weiterlesen
Zurück zur Startseite