Lesevergnügen #29: Lesenswerte Neuerscheinungen im Herbst 2023
Bücher haben ganzjährig Saison und Lesen ist nicht an eine bestimmte Jahreszeit gebunden. Trotzdem geht der Herbst unabdingbar mit mehr muckeligen, von dampfenden Tassen begleiteten Abenden auf dem Sofa einher, die geradezu nach einem Buch schreien. Also allerhöchste Zeit für Bücherwürmer, sich mit frischem Lesestoff einzudecken. Diese Neuerscheinungen legen wir euch für den Herbst besonders ans Herz.
Colson Whitehead entführt uns in das Herz von Harlem in den turbulenten 1970ern, Terézia Mora zeichnet das verstörende Psychogramm einer toxischen Beziehung und Deniz Utlu schreibt über eine bewegende Vater-Sohn-Beziehung. Viel Spaß beim Schmökern!
1 Nora Haddada: "Nichts in den Pflanzen"
Leila ist Mitte Zwanzig, Drehbuchautorin und hat gerade ihren ersten Job bei einer großen Produktionsfirma an Land gezogen. Tagsüber sitzt sie mittelmäßig produktiv am Schreibtisch und nachts in Eckkneipen und auf Dinnerpartys. Dort versuchen sich die anderen Kulturschaffenden in einem Klima aus Neid und Konkurrenzkampf mit ihren Erfolgsgeschichten gegenseitig zu übertrumpfen. Und während Leila noch mit ihrer halb geheimen, aber sehr inspirierenden Affäre mit Leon beschäftigt ist, schreibt ausgerechnet ihre Erzfeindin Aischa auch an einem Drehbuch.
Die 25-jährige Wahlberlinerin Nora Haddada, die selbst als Drehbuchautorin gearbeitet hat, seziert in ihrem Debüt mit kluger Ironie eine Scheinwelt, die gar nicht so glamourös ist, wie sie vorgibt.
2 Colson Whitehead: "Die Regeln des Spiels"
New York ist in den 1970ern alles andere als ein Place-to-be. Schon gar nicht in Harlem, wo Ray Carney, die Hauptfigur des Romans, lebt. In seinem Viertel brennen ganze Wohnblöcke, es gibt blutige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bürgerrechtler*innen, Schießereien, Raub und Mord gehören zur Tagesordnung. Der ehemalige Kleinkriminelle Ray verschließt lieber die Gardinen angesichts des Chaos vor seinem Fenster und widmet sich stattdessen seinem kleinen Möbelgeschäft. Aber als seine Tochter sich sehnlichst Karten für das restlos ausverkaufte Jackson-Five-Konzert wünscht, aktiviert der Vater einen Kontakt aus alten Hehlertagen. Doch der fordert bald eine Gegenleistung, die Ray wieder tief in den Strudel der Unterwelt zieht. Die Regeln des Spiels ist der zweite Teil von Colson Whiteheads Harlem-Trilogie, die eine*n in den New Yorker Mikrokosmos entführt.
3 Terézia Mora: "Muna oder die Hälfte des Lebens"
Munas Zuhause in einer ostdeutschen Kleinstadt besteht aus "einem Totenbett, einem leeren Ehebett und einem Kinderbett". Nach dem frühen Tod ihres Vaters bleibt der jungen Frau nur noch ihre tablettensüchtige Mutter, die bald an einer Überdosis stirbt. Inmitten dieser Tristesse trifft sie 1989 auf Magnus, einen Lehrer und Fotografen mit geheimnisvoller Aura. Nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet er spurlos – nur um sieben Jahre später plötzlich wieder vor ihr zu stehen. Muna lässt für Magnus alles stehen und liegen und hofft in der Beziehung zu ihm endlich ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch stattdessen häufen sich seine Demütigungen und Gewaltausbrüche. Die gebürtige Ungarin Terézia Mora zeichnet verstörend nüchtern und gerade deshalb so eindrucksvoll das Psychogramm einer toxischen Beziehung.
4 Saba Sams: "Send Nudes"
In zehn Kurzgeschichten erzählt die junge britische Autorin Saba Sams von den Tücken des Erwachsenwerdens und von Schwärmereien, aber auch von Mutterschaft und Verlust. Eine junge Frau trifft ihren ersten Freund – und dessen Hund, der bald nur noch auf sie hört. Eine andere erholt sich langsam von einer Abtreibung, während ihre Freundin nach den besten Instagram-Posen sucht. Und ein Mädchen bringt sich sogar in Lebensgefahr, nur um der besten Freundin der Stiefschwester zu imponieren. Alle weiblichen Figuren ringen damit, sich selbst zu finden – in einer Welt, die ihnen das alles andere als einfach macht.
5 Daniel Kehlmann: "Lichtspiel"
Nach seinem letzten Roman "Tyll" widmet sich Daniel Kehlmann der nächsten historischen Figur: Georg Wilhelm Pabst, der zu den erfolgreichsten Regisseuren der Weimarer Republik zählte. Der Filmemacher flieht mit der Machtergreifung der Nazis nach Frankreich und später sogar nach Hollywood, wo er seinen Erfolg jedoch nicht wiederholen kann. Als der Propagandaminister in Berlin den Regisseur mit Versprechungen lockt, verstrickt sich Georg Wilhelm Pabst immer rettungsloser ins diktatorische Netz.
Der Bestsellerautor liefert mit "Lichtspiel" einen 480 Seiten langen Historienschmöker über Kunst und Macht, den man so schnell nicht beiseitelegen kann.
6 Bora Chung: "Der Fluch des Hasen"
Bora Chung ist Buchautorin und unterrichtet "Science Fiction Studies" in ihrer koreanischen Heimatstadt Seoul. Ihre Kurzgeschichten in "Der Fluch des Hasen" sind aber nicht allein dem Sci-Fi-Genre zuzuordnen; Horror, Satire und magischer Realismus sind ebenfalls Teil der wilden Mischung. Fans von Black Mirror kommen jedenfalls auf ihre Kosten bei den unheimlichen und verrückten Fabeln, die der Gesellschaft mit ihren sehr realen Schrecken einen Spiegel vorhalten.
7 Yasmin Polat: "Im Prinzip ist alles okay"
8 Alex Schulman: "Endstation Malma"
Ein Zug tuckert durch eine schwedische Sommerlandschaft. Das Ziel ist Malma, ein kleines Örtchen mitten im Wald. An Bord sitzen ein Ehepaar in der Krise, ein Vater mit seiner kleinen Tochter sowie eine Frau, die das Rätsel ihres Lebens lösen will. Keine*r der Mitfahrer*innen ahnt, dass all ihre Schicksale miteinander verwoben sind und was für ein lebensveränderndes Ereignis sie an der Endstation Malma erwartet.
Alex Schulman stellt in seinem dritten Roman die große Frage, ob unsere Zukunft allein von der Vergangenheit bestimmt wird oder wir sie wirklich frei bestimmen können. Die perfekte Lektüre, wenn ihr selber gerade eine lange Zugfahrt vor euch habt.
9 Lọlá Ákínmádé Åkerström: "In allen Spiegeln ist sie Schwarz"
Auch "In allen Spiegeln ist sie Schwarz" ist in Schweden angesiedelt, allerdings in der Hauptstadt Stockholm. Dorthin verschlägt es drei Frauen, die in der Metropole ein neues Leben beginnen wollen. Ihre Umstände könnten nicht unterschiedlicher sein: Kemi wird als Marketing-Talent aus den USA in ein schwedisches Unternehmen abgeworben und soll mit der richtigen Prise Diversity vom letzten PR-Fiasko ablenken. Flugbegleiterin Brittany-Rae lernt bei der Arbeit einen schwedischen Millionär kennen und führt plötzlich ein Leben als schönes Accessoire an seiner Seite in nie gekanntem Luxus – aber zu einem hohen Preis. Muna ist aus Somalia geflohen und darf nach zwei Jahren im Aufnahmezentrum endlich in eine Wohnung in Stockholm ziehen. Doch die traumatischen Umstände ihrer Flucht holen sie immer wieder ein.
Die in Nigeria geborene und in Schweden lebende Reisejournalistin Lọlá Ákínmádé Åkerström begleitet in ihrem Erstlingswerk drei Frauen, die trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe gleichermaßen mit Rassismus, Sexismus und Klassismus konfrontiert werden. Ein ergreifender Roman darüber, was es bedeutet, sich als Schwarze Frau in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft zu behaupten.
10 Emma Cline: "Die Einladung"
Emma Cline liefert sieben Jahre nach ihrem Bestseller "The Girls" über die Manson-Family endlich den Nachfolger "Die Einladung", der ebenfalls von den Abgründen von Macht und Manipulation handelt.
Alex verbringt die letzten Tage des Sommers in den Hamptons, der liebsten Wochenendresidenz schwerreicher US-Amerikaner*innen. Aber die 22-Jährige ist nicht Teil dieser Welt, sondern nur auf Einladung zu Gast auf unbestimmte Zeit. Solange bis der Tausch von Sex und Gesellschaft gegen Geld, Drogen und ein Dach über dem Kopf nicht mehr funktioniert. Aber Alex kann auf gar keinen Fall zurück nach Hause – ihre Mitbewohnerinnen haben sie rausgeschmissen und ein wütender Schuldeneintreiber ist ihr auf den Fersen. Als der ältere Simon sie nach einem Fehltritt aus seiner Hamptons-Villa wirft, braucht Alex also dringend einen Plan.
Als soziales Chamäleon, das sich den Wünschen und Erwartungen Anderer perfekt anpasst, hangelt sie sich von Zufallsbekanntschaft zu Zufallsbekanntschaft und hinterlässt eine Schneise der Zerstörung – bis die Situation endgültig eskaliert.
11 Deniz Utlu: "Vaters Meer"
"Es war Sommer, es roch nach Meer, ich war dreizehn Jahre alt, mein Vater fiel." Seit diesem Sommer ist für Yunus nichts mehr wie zuvor. Sein Vater erleidet zwei Schlaganfälle und wird von heute auf morgen zum Pflegefall. Der nahezu vollständig gelähmte Mann kann sich fortan nur noch mit Blinzeln und Augenbewegungen verständigen. Als er zehn Jahre später stirbt, ist Yunus schon längst aus der Wohnung der Eltern in Hannover ausgezogen. Doch jetzt erwachen wieder all die Bilder aus Kindertagen und mit ihnen die Erinnerungen an seinen Vater. Ein Vater, der ebenso warmherzig wie abweisend sein konnte und genauso laut lachte, wie er auf Arabisch fluchte. Ein Vater, der trotz erzwungener Sprachlosigkeit wichtiger Gesprächspartner für seinen Sohn blieb.
Deniz Utlus erstes Buch "Die Ungehaltenen" wurde bereits 2015 vom hiesigen Maxim Gorki Theater adaptiert. Mit "Vaters Meer" hat er einen bewegenden Roman über eine Vater-Sohn-Beziehung, Schicksalsschläge und Kindheitserinnerungen geschrieben.