Weltschmerz ohne Ende – der Herbst verliert seinen Kürbissuppencharme

© Marina Beuerle

Beim Einstellen der Heizung habe ich letztens nicht aufgepasst. Plötzlich war mein Fokus enteilt. Von der Frage, welchen Sinn eine Schneeflocke als niedrigste Wärmeeinheit ergibt, zu der Frage, welchen Sinn das alles ergibt. Warum überhaupt heizen, warum überhaupt wohnen, warum überhaupt sein. Gefährlich. Vor allem in Zeiten von Klimawandel und Krieg. Das gab es alles schon im Sommer, aber mit Erdbeereis lässt sich Existenzialismus leichter verdrängen. Und jetzt? An welche Waffel klammern wir uns jetzt?

Beim Blick aus dem Fenster galoppieren Gedanken durch graue Gewitterwolken. War es ein Fehler aus dem fünften Stock in den ersten zu ziehen? Die Beletage bringt mir ja kein Vitamin D. Oder war es ein Fehler nach Berlin zu ziehen? Der Winter hier, et cetera pp. Hätte ich in erster Instanz gar nicht bei meinen Eltern ausziehen sollen oder wenn dann direkt in den Bunker – Vorteile für atomare Anschläge zugleich. Schieflagige Kopfspiralen, die niemand brauchen kann, speziell aktuell.

© Felix Kayser

Bald beginnt wieder die sechste Jahreszeit, mit der Winterzeit verlässt man die Wohnung im Dunkeln und kommt im Dunkeln heim. Irgendwann dazwischen muss wohl die Sonne geschienen haben, aber nicht in Berlin und nicht im Büro. Abgelöst wird sie vielleicht nur von der siebten Jahreszeit, in der wir das Haus gar nicht mehr verlassen dürfen. Früher wurden die Nächte auch länger, das kam uns allerdings entgegen, als Tanzflächen noch logische Lebensräume waren. Früher wurden die Tage auch kürzer, aber dann hat man die Wohnung gut ausgeleuchtet, die Heizung aufgedreht, ein Bad eingelassen – und sich auf das Fest des Konsums gefreut.

Es ist schon schade, dass wir dieses sorgenlose, privilegierte, weiße Leben nicht mehr führen können. Wobei, auf dem Oktoberfest war ich. Im Club auch. Und die Heizung geht auch noch. Teurer ist es halt geworden. Aber immerhin geht hier alles noch.

© Wiebke Jann

Bei so viel Drama im Weltgeschehen verliert der Herbstblues irgendwie seinen Kürbissuppencharme. Aber was soll ich denn sonst machen, außer essen?

Ernsthaft frage ich mich aber, wie man zwischen Weltgeschehen, Wohlwollen und widrigem Wetter nicht den Kopf verlieren soll?

An Kriegsopfer spenden, Klimapetitionen unterschreiben – klar. Außerdem gehaltvoll lieben, produktiv arbeiten, Freundschaften und Familie pflegen, vegan ernähren, viel Wasser trinken, Sport treiben, gendern, Gasrechnungen zahlen, nie wieder fliegen, fürs Alter sparen. Das meine ich ernst, das sollten wir alles tun. Genauso ernsthaft frage ich mich aber, wie man zwischen Weltgeschehen, Wohlwollen und widrigem Wetter nicht den Kopf verlieren soll. Ab wann ist Herbstblues eine Depression und ab wann werden fallende Blätter zu Abfall? Ich weiß es nicht.

Ich weiß gerade auch nicht, was mir gut tut. Sport und rausgehen haben eigentlich immer geholfen, aber zu beidem brauche ich für den Spaß Bälle. Und sowohl Fußballmannschaften als auch Clubs sind mir in Berlin häufig zu voll. Essen ohne Bewegung ist ein kurzes Vergnügen. Der Harry-Potter-Marathon fühlt sich gut an, auch wenn mir der Sexismus aus dem vierten Teil etwas zu laut entgegenbrüllt. Pasta-Partys mit Freund*innen wärmen das Herz. Bücher, die inhaltlich weit entfernt von Zeitungsapps sind, auch. So wie die Wohnung gemütlicher einzurichten und Playlisten in Dur zu basteln. Einfach mal Fünfe gerade sein lassen, ohne apathisch zu werden. Das sind schrecklich offensichtliche Tipps, aber manchmal hilft nur Captain Obvious. Und die Heizung aufdrehen. Nicht bis zum Anschlag, aber so, dass es sich gut anfühlt.

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