Weihnachten zu Hause: Wieso ich nicht zu meinen Eltern fahre

© Anne-Catherine Piétriga

Früher wäre es ganz einfach gewesen. Denn früher, das war vor etwa 20 Jahren, wurde ich jedes Jahr am 22. Dezember ins Auto meiner Eltern geladen und wir fuhren die lange Strecke von Karlsruhe nach Berlin und hatten dabei allesamt denkbar schlechte Laune. "Ich will nicht nach Berlin. Berlin ist doof!", denunzierte ich meine Geburtsstadt vom Rücksitz aus, in die ich es zehn Jahre später äußert eilig haben würde, zurückzuziehen. Aber als Kind bedeutete Berlin für mich ein Marathon an Besuchen bei Oma eins, Oma zwei, Uroma eins, der wunderlich gewordenen Uroma zwei und diversen Tanten und Onkel, die ich praktisch nicht kannte. Dass Weihnachten alle zusammen kamen und gemeinsam feierten, gab es bei uns nicht. Zu viel Streit, zu viele Scheidungen.

Vor ein paar Jahren, der (Ur-)Oma-Bestand war rapide geschrumpft, beschlossen meine Eltern, dass mein zehnjähriges Ich mit seinem Berlin-Bashing absolut Recht gehabt hatte. Seither fahren sie über die Feiertage in ein Wellness-Hotel in den bayerischen Bergen. Ich, ihr einziges Kind, fuhr natürlich immer mit. 2020 war das Hotel wegen Corona geschlossen und ich blieb im virenverseuchten Berlin, um meinen Eltern nichts einzuschleppen. Also feierte ich mit der Familie meines Freundes, die hier in Berlin lebt.

Weihnachten zu Hause feiern – nur nicht im eigenen

Es war das erste Mal, dass ich ein Weihnachten erlebte, wie man es aus den Filmen kennt: ein gemütliches kleines Haus im verschneiten Charlottenburg, Kerzen im Fenster, eine völlig chaotische Küche, in der die "gute Ute", wie wir die Mama meines Freundes nennen, den Weihnachtsbraten inklusive vegetarischer Alternative für mich und die Cousinen zubereitete, und Papa Bernd, der den Weinkeller plünderte.

Alle waren da: Schwester, Onkel, Großtanten und die vegetarischen Cousinen, die ich so sehr mag. Unter dem geschmückten Christbaum lagen so viele Geschenke, dass man über den Berg klettern musste, um zum Sofa zu gelangen, von wo aus wir Loriot schauten. Es war die Art Weihnachten, für die ich auch als Kind schon gern in die Heimat zurückgekehrt wäre. Nur war es eben nicht meine Familie, mit der ich hier feierte und meine Eltern fehlten mir. Früher wäre es ganz einfach gewesen. Da wären wir alle in Berlin gewesen, hätten einen Tag mit Oma zwei und die restlichen Tage mit der Familie meines Freundes verbringen können. Immerhin ist es ein seltener Luxus, dass unsere beiden Familien aus Berlin stammen.

Weihnachten
© Chad Madden | Unsplash
Meine Freundin und ihre Schwiegermutter in spe können sich nicht ausstehen. Und trotzdem verbringen sie Heiligabend miteinander.

Die meisten Paare in meinem Freund*innenkreis fahren für zwei Tage zu den einen und zwei Tage zu den anderen Eltern – denn da kommt keine*r aus Berlin. So richtig toll findet das niemand, die viele Fahrerei. Noch stressiger wird es, wenn die Eltern geschieden sind und Weihnachten zu einem Besuchsmarathon verkommt, wie ich ihn als Kind schon so verabscheut hatte. Oder wenn einem das Fest der Liebe schon Tage im Voraus Bauchschmerzen bereitet: Meine Freundin und ihre Schwiegermutter in spe können sich nicht ausstehen. Und trotzdem verbringen sie Heiligabend miteinander. Besinnlich endet das selten.

Für mich hat sich die "Zu mir oder zu dir?"-Frage an Weihnachten eigentlich nie gestellt. Dass mein Freund für zwei Tage in das teure Wellness-Hotel in Bayern fährt, war keine Option und dass meine Eltern wieder nach Berlin kommen, leider auch nicht. So verbrachten wir (mit der Corona-Ausnahme) Weihnachten immer getrennt voneinander. Schlimm fand ich das nicht. Man sieht sich ja das ganze restliche Jahr und Weihnachten gehört nun mal der Familie. Oder?

Das letzte Mal bayerische Weihnacht

Letztes Jahr fuhr ich also wieder in die Berge. Sechs Stunden Zugfahrt in Richtung München, eine Stadt, zu der ich so gar keinen Bezug habe, weiter in ein Hotel, das schön, aber eben nicht mein Zuhause ist, zu meinen Eltern, auf die ich mich freute, nicht aber auf die Hundert Fremden, die jeden Abend mit uns zusammen im Speisesaal saßen und mit einer gewissen Steifheit ihr Vier-Gänge-Menü löffelten. Ich vermisste das trubelige Haus, die lockere Stimmung und den aufgedrehten Neffen meines Freundes, der mir auf dem argumentativen Niveau eines Hochschulprofessors erklärt, wieso er sehr wohl noch mehr Kekse essen dürfe.

Und deshalb habe ich beschlossen, dieses Jahr in Berlin zu bleiben und mit der Familie meines Freundes Weihnachten zu feiern. Ich verstehe meine Eltern, die an den Feiertagen entspannen wollen. Aber ich verstehe auch mich, die sich eine große Familie und den ganzen Trubel wünscht. Für meine Eltern war das keine schöne Nachricht. Als Wiedergutmachung werde ich im neuen Jahr nach Hause fahren – nach Hause in unser kleines Reihenhaus, in mein altes Kinderzimmer mit der Blumentapete, zu all den Erinnerungen und dem Nostalgiegefühl, für das wir Weihnachten so lieben. Ich finde, dass es für dieses Gefühl kein Datum im Dezember braucht, sondern einzig und allein den richtigen Ort: Zuhause.

Noch mehr Gedanken gibt's hier

Wer viel schenkt, liebt viel?
Es gibt tatsächlich Paare, die sich gegenseitig iPads zu Weihnachten schenken. Gedanken darüber, was das Schenkverhalten in Beziehungen aussagt.
Weiterlesen
Fernfreundschaften pflegen
Viele Freundschaften zerbrechen, wenn eine*r in eine andere Stadt zieht. Gedanken darüber, wie Freundschaft auf Distanz funktioniert.
Weiterlesen
Zurück zur Startseite