Hitlergruß in der Waldorfschule – das lernt mein Kind fürs Leben?

© Wiebke Jann

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Nun sieht er seine Tochter Wanda* nur noch am Wochenende. Ein Alltag zwischen Sehnsucht und Großstadt-Exzessen.

Um zwanzig nach zwölf taucht endlich der Arzt auf. Ich stehe bereits seit neunzig Minuten in der Schlange, die sich einmal durchs ganze Obergeschoss der Schönhauser Allee Arcaden zieht. Da niemand da war, um uns die Spritzen zu setzen, hat sie sich seitdem noch keinen Zentimeter bewegt. Ich will mich ja überhaupt nur „boostern“ lassen, weil ich befürchte, dass der dritte Hit bald Pflicht sein wird, um als geimpft zu gelten. Und ich weiter Zutritt zu meiner Stammkneipe haben möchte.

Als ich den ersten Schritt Richtung Spritzkabine machen darf, klingelt mein Handy. Es ist Nora*, die Mutter meines lieben Kindes. Dieses hat am gestrigen Abendbrottisch für einen kleinen Schocker gesorgt. Als sie sich nämlich in einer lärmigen Situation Gehör verschaffen wollte, tat sie das, indem sie zwei Finger ihrer linken Hand unter ihre Nase hielt, und den rechten Arm steil in die Luft reckte.

Hitler am Abendbrottisch

„Sie hat WAS gemacht?“, rufe ich zur Verwunderung der Umstehenden.

„Sie hat Hitler imitiert.“

„Und warum imitiert sie Hitler?“

„Sie sagt, dass die Jungs aus der Vierten das machen, wenn sie für Ruhe sorgen wollen. Und dass die das von ihrer Lehrerin gelernt haben.“

Mein erster Gedanke ist, dass Wanda etwas falsch verstanden haben muss. Oft genug habe ich schon eine dicke Lippe riskiert, weil ich ihre Wolkenkuckucks-Berichte zu ernst nahm. Andererseits besucht sie eine Waldorfschule, und man hat da ja schon von allerhand exotischen Ausschreitungen gehört. Zumal es da in der Gegend etliche völkische Siedlungen gibt, aus denen theoretisch ja auch eine Lehrerin stammen könnte.

Nora erzählt jedenfalls, wie schockiert sie waren, und wie Wanda* daraufhin weinen musste. Weil sie natürlich dachte, etwas Schlimmes getan zu haben. Ich frage, ob ich mit ihr sprechen kann, aber es dauert noch zwei Stunden, bis sie zu Hause ist. Zum Glück bewegt sich die Schlange vor mir nur sehr langsam voran. Inzwischen ist zwar eine zweite Ärztin eingetroffen, doch mehr als zehn Leute pro Stunde können sie nicht bedienen.

Die Sache mit dem Holocaust

„Wanda-Kind!“, rufe ich, als sie mich anruft. Ich bin nur noch vierzig Meter vom Impfstand entfernt. Nachdem sie mir von ihrem Alltag berichtet hat, spreche ich direkt den Knackpunkt an. Sie reagiert ungewohnt defensiv.

„Nein, Papa, darüber müssen wir jetzt nicht reden.“

„Aber ich will doch nicht schimpfen! Du kannst gar nichts dafür.“

Nun beginne ich den Versuch, ihr die Zusammenhänge zu erklären. Was einerseits gut funktioniert, weil sie mit mir schon fünf Wochen in Israel war. Und meine 80-jährige Freundin Aviva liebt, die aus London in die Wälder von Wales fliehen musste, als sie in Wandas Alter war. Eine Invasion der Nazis erschien zu diesem Zeitpunkt nicht unwahrscheinlich. Andererseits will ich Wandas unschuldige Welt nicht jetzt schon mit den Gräueln des Holocausts konfrontieren. Auch wenn es zahllose jüdische Kinder gibt und gab, die dieses Privileg nicht genießen durften.

Es kam auch schon mal zu einer ähnlichen Situation am S-Bahnhof Friedrichstraße. Dort kommen wir immer vorbei, wenn wir bei Dussmann shoppen gehen. Am Denkmal zur Erinnerung an Kindertransporte wollte Wanda wissen, was das bedeutet. Ich fing an zu erklären, bis wir zur Frage kamen: Und wie wurden die alle umgebracht? Worauf ich antwortete: Unter der Dusche. Und mich fragte, warum ich ihr das nun erzähle. Das arme Kind. Die arme Menschheit. Die schreckliche Menschheit.

Die arme Menschheit. Die schreckliche Menschheit.

Jedenfalls verklickere ich meinem Kind, dass es nicht lustig und cool ist, den Hitlergruß zu imitieren. Weil ich mir sicher bin, dass die Viertklässler nur provozieren wollten. Am nächsten Tag liege ich nachmittags im Bett, niedergestreckt von Moderna, als wieder mein Handy klingelt. Es ist Nora.

„Du kannst stolz sein auf dein Kind“, sagt sie.

Und erzählt dann, dass Wanda am Morgen direkt zu ihrer Klassenlehrerin gegangen ist, und sich beschwert hat. Dass sie es nicht gut finden würde, dass die Lehrerin der vierten Klasse diese Geste benutzt. Weil die von einem bösen Mann stammen würde, der Millionen von Menschen umgebracht hat. In der Folge klärte sich auf, dass die Lehrerin tatsächlich zwei Finger auf den Mund legt, wenn sie für Ruhe sorgen will. Und dabei den rechten Arm hebt. Nicht zum Hitlergruß, aber doch so, dass die Jungs es so auslegen konnten.

Man muss deshalb keinen Skandal provozieren, aber es ist gut, dass darüber gesprochen wurde. So wie ich gestern in meiner Stammkneipe fast zerlegt wurde, weil ein Muskelpaket behaupten musste, die Deutschen trügen keine Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der Rest der Belegschaft trat zwischen uns, um mich zu schützen. Und riet mir, das Weite zu suchen. Aber ich blieb, wo ich war, mit der Ansage: "Ich sitze hier für den Staat Israel." Was den Staat Israel vermutlich nicht interessiert. Aber manchmal sind kleine Gesten sehr wichtig.

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