Abgesagt! Welche Folgen hat die Corona-Krise für das kulturelle Leben in Berlin?

Wie sich die Corona-Krise auf öffentliche Orte wie die Markthalle Neun oder Bars auswirkt

Was DJ Oliver Koletzki und Booker Philipp Styra jetzt tun

Und warum die Berliner Clubmission auf Crowdfunding und Solidarität setzt

Der Coronavirus hat viele Schauplätze

Das Email-Postfach platzt. Absage. Eine nach der anderen. Das geht schon die ganze Woche so. Und auch während ich diesen Text hier schreibe, könnte ich alle zehn Minuten von vorn beginnen, weil eine Hiobsbotschaft nach der nächsten per Eilmeldung reinflattert. Sagen wir es mal so: Gestern, ausgerechnet an einem Freitag den Dreizehnten, scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Der Kampf gegen das sich immer weiter ausbreitende Coronavirus hat inzwischen so viele Schauplätze, man kann sie nicht mehr zählen. Und auch wir bei Mit Vergnügen sitzen seit Donnerstag präventiv im Home Office und verzichten vorläufig darauf, euch Events zu empfehlen, weil wir unseren Teil dazu beitragen wollen und müssen.

Wir haben in den letzten Tagen und Stunden viel darüber gesprochen, was die aktuelle Situation für das öffentliche, soziale und kulturelle Leben in unserer Stadt zu bedeuten hat? Welche Folgen und Auswirkungen wird die Krise für Kulturschaffende haben? Wie geht es für die Clubs, die Bars und die vielen freischaffenden Künstler*innen weiter, wenn wir ihre Partys und Konzerte nicht mehr besuchen können? Sicher ist gerade gar nichts – nur, dass wir uns alle in einer Ausnahmesituation befinden, sozusagen in einem Boot sitzen.

© Krass Böser Wolf

Ein moralisches Dilemma

Viele stadtbekannte Clubs, wie etwa die Wilde Renate, haben schnell Konsequenzen aus der aktuellen Situation gezogen und aus nachvollziehbaren Gründen vorübergehend geschlossen. Das schmerzt. "Allerdings wären wir nicht die Renate, wenn wir einfach so den Kopf in den Sand stecken würden". Sie wollen die Party trotzdem zu denen nach Hause bringen, die sonst bis in die frühen Morgenstunden bei ihnen tanzen. Ab heute Abend gehen deshalb täglich "Live From Renate"-Streams online. Von 22 bis 06 Uhr morgens könnt ihr die Clubnacht quasi in euer eigenes Wohnzimmer holen und außerdem mit Spenden unterstützen, denn eines ist sicher: Hier geht es schon jetzt ums nackte Überleben.

Direkt gegenüber der Wilden Renate liegt der Krass böse Wolf, den es vielleicht auch schon bald treffen wird. "Was ist in dieser Situation richtig?", fragen sich auch die Betreiber der Bar, als ich am Donnerstag bei ihnen nachhake, wie sie mit der Situation gerade umgehen. "Sollen wir schließen oder so lange es geht versuchen, den Leuten einen Safe Space zu bieten, an dem sie – natürlich auf einem hygienischen Top Level – nicht 24/7 mit dem ganzen Thema konfrontiert sind?". Was ist in so einer Lage richtig, was falsch? Und was ist es, was die Menschen in der Stadt jetzt brauchen?

Sollen wir schließen oder – so lange es noch geht – versuchen, den Leuten einen Safe Space zu bieten, an dem sie nicht 24/7 mit dem ganzen Thema konfrontiert sind?
Krass böser Wolf

Für eine Bar wie den Krass Bösen Wolf, die am Wochenende bis auf den letzten Barhocker besetzt ist, wäre auch eine vorübergehende Schließung mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden. Solange das Amt sie nicht zum Schließen zwingt, will der Krass Böse Wolf deshalb geöffnet bleiben. Ich kann es nachvollziehen. Und ich weiß, dass wir Menschen soziale Wesen sind.

© Daliah Hoffmann-Konieczka

Das öffentliche Leben verlangsamt sich

Auch an anderen Orten, an denen Menschen sich täglich begegnen, zum Einkaufen oder Essen, ist bereits spürbar, was die Einschränkungen bedeuten. "Das öffentliche Leben verlangsamt sich und das verändert natürlich auch einen Ort wie unsere Markthalle. Viele unserer Stände klagen über Umsatzeinbußen. Für uns alle ist die derzeitige Situation ein Ausnahmezustand – für die vielen kleinen Stände hier in der Halle und die Produzentinnen und Landwirte, die dahinter stehen ist er existenzbedrohend", sagt mir die Markthalle Neun in Kreuzberg auf Anfrage. "Dabei bietet so ein Einkauf die Möglichkeit, Landwirte, Bäcker, Metzger und Händlern auf unserem Markt in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen und die Zeit zum Kochen zu nutzen". Zwar darf die Markthalle weiter geöffnet bleiben, weil sie die Kund*innen mit frischen Lebensmitteln versorgt, den bekannten Streetfood Thursday und die regelmäßig stattfindenden Themenmärkte wurden aber auch hier abgesagt. 

Für uns alle ist die derzeitige Situation ein Ausnahmezustand – für die vielen kleinen Stände hier in der Halle und die Produzentinnen und Landwirte, die dahinter stehen ist er existenzbedrohend
Markthalle Neun

Am Freitagabend habe ich eine Mail der Berliner Clubmission im Postfach. Die Clubmission ist ein Verband, der als Sprachrohr der Berliner Clublandschaft agiert. Im Betreff steht, dass das Berliner Nachtleben ab sofort stillgelegt ist. Und weiter: "Alle 280 Berliner Clubs und Club-Veranstalter müssen nach Anordnung des Berliner Senats ab diesem Dienstag bis zum 20. April 2020 schließen und ihr Programm einstellen. Es wird allerdings laut des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller erwartet, dass die Spielstätten bereits ab sofort geschlossen bleiben." Am Nachmittag hatte Lutz Leichsenring, Pressesprecher der Clubcomission, mir am Telefon noch erzählt, dass er jede Minute mit einer solchen offiziellen Mail rechne, in der steht, dass Veranstaltungen gar nicht mehr stattfinden dürfen. Und er hat mir auch gesagt, warum diese Mail so wichtig ist.

© Markus Spiske | Unsplash

Berliner Nachtleben stillgelegt

Wenn es sich bei den Schließungen um eine staatliche Anordnung handele, dann bestehe wenigstens noch der Hauch einer Chance, dass die Clubs irgendwie unterstützt werden, auch wenn schon jetzt absehbar ist, dass es Insolvenzen geben wird. Keine gute Aussichten für die ohnehin schon angeschlagene Clubszene Berlins. "Es ist ja nicht bloß, dass die Clubs temporär schließen müssen. Da hängt ja noch ein ganzer Batzen dran. Wie soll das Personal in dieser Zeit weiterhin bezahlt werden, wenn die Clubs jetzt wochen- oder monatelang dicht sind, wie die laufenden Mietkosten?". Mir wird während des kurzen Gesprächs einmal mehr klar, welchen Rattenschwanz all die geplanten Maßnahmen, die unserer eigenen Sicherheit dienen sollen, nach sich ziehen werden. Das reicht von der Barkeeperin bis zum Türsteher.

Ich frage Lutz, ob es irgendwelche Lösungsansätze gibt? Das Team der Clubmission arbeitet gerade rund um die Uhr daran, nächste Woche ein Crowdfunding aufzusetzen, um Spenden zu sammeln. Ein Weg, um irgendwie durch diese Krise zu kommen. "Wir müssen jetzt gemeinsam auftreten. Die Größeren können den Kleineren helfen. Jetzt geht es darum, Solidarität zu zeigen". Ein wichtiger Gedanke. Ein gutes Vorhaben. Das alles können die Clubs tatsächlich nur mit vereinten Kräften schaffen. Wenn wir über die Clubs sprechen, dann müssen wir auch über die vielen Künstler*innen, Bands und DJs reden, die sie normalerweise Woche für Woche zum Leben erwecken.

© Kerstin Musil

Oliver Koletzki arbeitet international als DJ, legt jedes Wochenende in einer anderen Metropole auf. Was bedeutet es für ihn, wenn die Clubs schließen und Festivals abgesagt werden? "Das bedeutet erstmal, dass ich bis auf Weiteres arbeitslos bin. Dass ich kein Geld mehr verdienen kann, definitiv weniger Spaß haben werde und nicht mehr so viel reisen muss". Oli ist diese Woche nicht – wie geplant – nach Thailand zum Thaibreak Festival geflogen, sondern bleibt in Berlin. Das Afrikaburn wurde gestern abgesagt und seine USA Tour im April steht wegen des US Travel Buns auch auf der Kippe. Den meisten seiner DJ-Kolleg*innen geht es genauso.

Ich bin eigentlich bis auf Weiteres arbeitslos
Oliver Koletzki

Trotzdem findet er die Maßnahmen richtig, so traurig es auch sei. "Lediglich das Berghain oder das Sisyphos, die überdurchschnittlich gut laufen, können solche Umsatzeinbußen über einen längeren Zeitraum durchstehen", meint er. Doch wie insbesondere die kleineren Clubs unterstützen? "Es werden gerade diverse Crowdfunding-Kampagnen gestartet, da kann man ruhig mal ein paar Euro spenden. Ansonsten sehr viel ausgehen, wenn man wieder darf und doppelt so viel saufen". Und weil Oli jetzt zu Hause in Berlin geblieben ist, hat auch er sich zusammen mit den Jungs seines Labels Stil vor Talent überlegt, heute Abend um 19 Uhr ein 3-Stunden-Set via Livestream auf Facebook zu spielen – für alle Fans der elektronischen Musik, die zu Hause bleiben müssen. Da sind wa doch dabei!

© gbarkz | Unsplash

Tourneen werden in den Herbst verlegt

Berlin steht natürlich auch für seine Konzerthallen, die ganz großen Bühnen, aber auch die kleineren, auf denen Künstler*inne aus aller Welt stehen und uns mit ihrer Musik beglücken. In dieser Woche wurde klar, dass wahrscheinlich keiner der geplanten Auftritte in den nächsten Wochen stattfinden kann. Philipp Styra arbeitet bei der All Artist Agency und ist dort unter anderem für das Booking von Künstler*innen wie Scooter, Haftbefehl oder Olli Schulz zuständig. Wie hat er die letzten Tage erlebt? "Wir haben gerade alle Touren, die Ende April stattfinden sollten, verlegt, die meisten gleich in den Herbst. Bei mir persönlich waren es um die 60 Shows". Wenn man das mal hoch rechnet, kommt da eine Menge zusammen. Philipp hofft natürlich, dass es so schnell wie möglich weitergehen kann, ohne dass dabei Menschen in Gefahr gebracht werden. "Allerdings kann niemand sagen, wann das sein wird. Es ist schon jetzt finanziell ziemlich knackig – gerade für kleinere Künstler, Musiker und vor allem die ganzen Crews dahinter wie Tourleiter, Ton- und Lichttechniker".  Auch hier ist er wieder, der Rattenschwanz. 

Es ist schon jetzt finanziell ziemlich knackig – gerade für kleinere Künstler, Musiker und vor allem die ganzen Crews dahinter wie die Tourleiter, Ton- und Lichttechniker
Philipp Styra

Am Ende dieses verrückten Tages, Freitag dem Dreizehnten, steht ganz klar die Erkenntnis, dass diese Corona-Krise ein Stresstest werden wird. Für alle kulturellen und öffentlichen Institutionen in unserer Stadt. Für Künstler*innen, Musiker*innen ebenso wie für Freiberufler*innen. Für Cafés, Restaurants und Bars. Für die Clubs und die Konzerthallen. Für uns alle. Aber was ich heute aber auch bemerkt habe, ist, dass eine beispiellose Bereitschaft da ist, sich zu engagieren. Selten habe ich erlebt, wie schnell nach Alternativen und Wegen gesucht wird, wie wir uns in diesen Zeiten gegenseitig supporten können. Auch wenn das Leben da draußen vielleicht für eine Zeit lang ein bisschen stiller sein wird, können wir ordentlich Krach machen – ob per Livestream, beim Crowdfunding oder mit solchen Petitionen. Es gibt viele Möglichkeiten, zu zeigen, was Gemeinschaft bedeutet – jetzt mehr denn je. Oder man sagt es mit Christoph Amends Worten, der gestern twitterte: "Nie war es so wichtig, gemeinsam allein zu sein."

© Benedikt Geyer | Unsplash
Zurück zur Startseite