Süchtig nach Harmonie?

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„Kannst du das jetzt nicht endlich mal ordentlich machen? Das geht so nicht.“ – „Ey, lass du mich doch einfach mal meinen Kram machen. Es kann dir doch egal sein, wie ich meine Sachen mache.“

Mein Puls wird schneller. Ich werde nervös. Unruhig. Mein Gehirn überschlägt sich auf der Suche nach einer Lösung. Wie kann ich die Wogen glätten? Vermitteln? Es stellt sich ein wahnsinnig unangenehmes Gefühl ein, gegen das ich nur schwer ankämpfen kann – und das, obwohl ich nichts mit dem aufkeimenden Streit zu tun habe. Das hier ist nicht mein Streit. Ich bin nur ein Zaungast. Genau genommen ein ungebetener Gast, denn wer hat schon gerne Zuschauer*innen, wenn man sich streitet. Und trotzdem bin ich ein Gast, der diesen Streit vermutlich schlimmer findet als die Beteiligten selbst.

Es fühlt sich an wie ein empfindlicher Sensor, der mich, sobald etwas Anspannung in der Luft liegt, in eine Art nervöse Schockstarre versetzt und in mir gleichzeitig das Bedürfnis hervorruft, irgendetwas zur Entspannung dieser Situation zu tun.

Aber wieso ist das so? Es ist ja nicht so, dass ich statt meine eigene Meinung zu vertreten, mich aus Angst lieber der Meinung meines Gegenübers anpasse und jeder Debatte aus dem Weg gehe. Ich kann Auseinandersetzungen und Debatten führen. Bis zu einem kritischen Punkt, der Spannung heißt. Es fühlt sich an wie ein empfindlicher Sensor, der mich, sobald etwas Anspannung in der Luft liegt, in eine Art nervöse Schockstarre versetzt und in mir gleichzeitig das Bedürfnis hervorruft, irgendetwas zur Entspannung dieser Situation zu tun – egal, ob ich an dieser Debatte beteiligt bin oder nicht. Bin ich es, rudere ich an diesem Punkt zurück. Und zwar zügig. Ich will mich nicht streiten. Will keine Spannungen. Das mag für viele konfliktscheu erscheinen, und das ist es vermutlich auch. Für mich ist es aber viel weniger eine Frage der Scheu, sondern des damit verbundenen Benefits: Ich diskutiere nicht um Kopf und Kragen wegen etwas Belanglosem. Da ist mir der emotionale Stress, den mir Auseinandersetzungen verschaffen, viel zu hoch. Ich gebe (unwichtige) Diskussionen lieber auf, solange ich mich emotional noch von ihnen befreien kann. Wenn ich aber gar nicht erst involviert bin, obliegt nicht mir die Entscheidung, ob das Ganze zu einem ausgewachsenen Streit wird oder sich schnell wieder beruhigt. Ich kann nur dabei zusehen, wie mein Puls langsam schneller und ich unruhiger werde.

Und dabei ist es egal, ob das meine Geschwister, meine Mitbewohner*innen und ihre Partner*innen, Freund*innen, meine Arbeitskolleg*innen oder entfernte Bekannte sind, ich kann es nur schwer ertragen, wenn sich Menschen in meiner Umgebung streiten. Ich versuche dann alles, um die Situation und die Beteilgten zu besänftigen. Das tue ich natürlich, weil ich nicht will, dass sich meine Freund*innen streiten. Ich tue es aber auch aus Egoismus, weil ich es nicht ertragen kann.

Ich kann es nur schwer ertragen, wenn sich Menschen in meiner Umgebung streiten

Natürlich können wir jetzt die Scheidungskind-Keule schwingen und alles darauf abschieben, dass meine Eltern sich getrennt haben als ich fünf war und ich fürchterlich darunter leide. Das mag vielleicht bei einigen stimmen. Bei mir allerdings nicht. Ich habe nicht das Gefühl, darunter gelitten zu haben. Meine Eltern haben sich getrennt, ja. Aber ich bin kein klassisches Scheidungskind, das als Spielball zwischen den streitsüchtigen Eltern hin und her geworfen wurde und jetzt vor jedem Konflikt zurückscheut. Meine Eltern haben sich eigentlich nie vor uns Kindern gestritten. Als Liebespaar haben sie zwar nicht (mehr) funktioniert, dafür sind sie, seit ich denken kann, beste Freunde und in dieser Konstellation funktionieren sie ziemlich super. Aber woran liegt es dann?

In einschlägigen Frauenmagazinen wird dieses Gefühl, dieses unbedingte Bedürfnis nach Harmonie, als Frauenkrankheit bezeichnet. Oprah Winfrey nennt es "The desease to please". Ich glaube nicht daran, dass es eine Krankheit ist, harmoniebedürftig zu sein. Für mich ist es einfach eine besondere Form der Empathie, mit der ich eigentlich ziemlich gut zurecht komme. Und ich bin mir sicher, es würde uns allen gut tun, häufiger Diskussionen uns zuliebe und auch der Harmonie willen, eben nicht hochkochen zu lassen. Emotionaler Stress bedeuten Streitereien nämlich für jede*n, auch wenn es einige nicht direkt empfinden. Es gibt ja dieses alte Sprichwort "Nur wer heiß streitet, kann auch heiß lieben". Da muss ich ganz klar sagen: Dann liebe ich lieber lauwarm. Denn es wird ja ohnehin nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

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