Huhu Berlin, jetzt kommen die Brandenburger!

© David Streit

Naja und die Brandenburgerinnen natürlich auch. Aber wohl aus Jobgründen. Es pendeln nämlich immer mehr Menschen in die Hauptstadt, um dort ihrem Beruf nachzugehen. Mittlerweile arbeiten hier über 200.000 Brandenburger*innen und nehmen täglich den Weg in die City auf sich. Tendenz steigend. Weil ich bei solchen News nicht nur einer Quelle vertrauen will, habe ich hierzu weiter recherchiert. Ich bin selbst mal eine Runde gependelt. Ehrlich gesagt mache ich das sogar jetzt schon eine Weile länger. Von Beelitz nach Berlin und wieder zurück.

Ich bin so weit gegangen, dass ich mir da eine Unterkunft gesucht habe. Ist so schön ruhig auf dem Land. Darauf hat mich Charlotte Roche gebracht und die ist nun mal mein Role Model. Aber dass alles Kopf steht, wenn man plötzlich nur noch in Bahnzeiten denkt, hat sie nicht erwähnt. Oder ich war schon am Tagträumen, wie geil das wäre, wenn man mal nicht den nackten rauchenden Nachbarn am Fenster gegenüber am Morgen sehen und die über einem Wohnenden beim Fitnesstraining hören müsste. Jedenfalls takte ich jetzt meinen Alltag nach den stündlich fahrenden Zügen. Freund*innen treffe ich in dem festgesteckten Rahmen der Berlin-Zeit und To-Dos werden unterwegs am Laptop erledigt. Inzwischen weiß ich genau, wo das Netz für einen Business-Call reicht und bei welchem Streckenabschnitt ich lieber meine Mails zwischenspeichere. Bei dem Selbstversuch ist mir aufgefallen: Ja, tatsächlich stecken hier echt viele Menschen in einem Zug. An der News muss wohl was dran sein. Nachdem ich so meine Bestätigung hatte, wollte ich mehr über die ewig Reisenden erfahren. Also habe ich zugehört. Und eine Sache ist Fakt:

Die Leute reden echt laut über Sachen, die niemanden etwas angehen

„Mir ist kuscheln ja viel wichtiger als Sex“, sagt mein Gegenüber zu der Person, die neben mir im Zug sitzt zum Beispiel. Ich kenne ihn nicht. Finde aber, er sieht bei diesen Worten mächtig traurig aus. Als wäre es mit dem Kuscheln allein nicht geklärt. Als wäre da mehr. Die Gedanken, die sich sturzartig in meinem Kopf ausbreiten, werden gleich wieder an die Leine genommen. Der Traurige redet weiter: „Aber sie will jetzt nun mal eine offene Beziehung, mit allem Drum und Dran. Was soll ich da machen?“ An der Stelle sollte ich spätestens meinen Spotify-Mix der Woche starten. Doch nee, ich lasse die Kopfhörer dann in der Jackentasche und mein Buch im Rucksack, nachdem sich die Blonde zu meiner Linken nach vorne lehnt und in Alexa-Lautstärke 4 tönt: „Für Tom und mich ist das ja kein Ding. Wir sind beide gar nicht eifersüchtig. Ich fand ja auf unserer Hochzeit die Kellnerin so heiß. Es hat ihn überhaupt nicht gestört, dass ich etwas geflirtet habe. Du musst halt wissen, ob du mit der einen weiterhin zusammen sein willst oder ob es der erste Schritt in Richtung Trennung ist. Wir lieben einander, da können wir auch mit anderen schlafen.“ Ich bin getriggert.

Gespräche, intimer als in der Sauna, kenne ich schon aus Berliner Cafés. Ich dachte also, ich sei gewappnet, wenn es um Persönliches im öffentlichen Raum geht. Doch seit ich öfter mit dem Regio so lange unterwegs bin, wie eine „Game of Thrones“-Folge geht, hat sich mein Horizont erweitert. Hier wird alles entblättert, was sich so ins Bewusstsein drängt. Von Liebes- über Job- bis hin zu Familienproblemen erfahre ich auf den blaugemusterten Bezügen sitzend die Ausnahmen ihres Alltags. Ein Weghören ist auf engstem Raum kaum möglich und selbst bei lauter Musik schaffe ich es nicht, jeden Dialog zu übertönen. Dabei ist jedem klar, dass hier nicht die lauschige Zweisamkeit eines heimischen Sofas herrscht. In dem Acht-Uhr-Zug quetscht sich alles.

Seit ich regelmäßig mit dem Regionalzug so lange unterwegs bin, wie eine „Game of Thrones“-Folge geht, hat sich mein Horizont erweitert.

Anzugträger stehen morgens dicht an dicht neben Studierenden, neben Schulklassen und den weniger klischeehaft Zuzuordnenden. Wenn ich dazu steige, ist nicht selten allerhöchstens noch ein Platz da frei, wo sich jeweils drei Leute gegenüber sitzen. Und genau auf so einem Mittelplatz bin ich, als ich von den Pros und Kontras einer offenen Beziehung erfahre. Ich kann nicht flüchten und sie nehmen das Thema derart auseinander, dass ich mich später unweigerlich informierter fühle, als von einem Artikel zu dem Thema und angehängter Studie. Das hier ist irgendwie näher. Ich sehe Gesichter dazu. Und erfahre noch rundherum sehr viel aus dem täglichen Hustle der so offenherzig sprechenden Menschen.

Das neue Gruppenfeeling

Wer viel pendelt, kennt mit der Zeit auch die Mitfahrenden. Ich sehe immer wieder den einen, der barfuß von Abteil zu Abteil läuft, um noch einen Platz in Potsdam zu ergattern. Ich weiß, dass es seiner Teenager-Tochter unangenehm ist, wenn sie mit Schulfreunden ebenfalls im Zug sitzt und er da ist. Sie setzt sich dann immer betont weit weg. Und ich sehe inzwischen auch, wann sich die eine mal wieder ihren akkurat bis zum Kinn gehenden Bob nachschneiden lassen hat. Ich kenne die gut gelaunte Schaffnerin, die es nicht wie ihre Kollegen mehrmals durch ein Abteil schafft, weil sie sich am liebsten mit jedem Einzelnen länger beschäftigt und Witzeleien austauscht („Ich hätte gerne mal ihren Fahrschein gesehen und noch einen Euro Fuffzig dazu – ich will mir noch 'n Kaffee holn, haha“). Da höre ich auch lieber hin als bei den Kids im Schulausflugsmodus. „Die Susanne ist so behind, die kennt nicht mal ihre eigene Kleidergröße“, heißt es da von einer (ich tippe auf) Sechsklässlerin zur anderen. Die etwas Älteren, mit ihren ersten Kinnbärten bzw. mit zu viel Make-up im Gesicht haben dagegen diese tonlose Art zu sprechen, bei der ihnen gefühlt aus Langeweile das Gesicht herunterzufallen droht. Zu einer meiner liebsten täglichen Routinen gehört von ihnen der Satz beim Aussteigen: „Endlich frische Luft und eine rauchen!“

Die Susanne ist so behind, die kennt nicht mal ihre eigene Kleidergröße!

Fürs Leben lernen

Aber auch die noch Kleineren können vor dem ersten Kaffee am Morgen mehr nerven als amüsieren. Wenn die Gruppe winziger Ranzenträger in Zweiergruppen hintereinander am Bahnhof heraushüpft und ein Neunmalkluger zum Rest brüllt: „Lauft schneller, sonst entsteht eine Lücke!“, will ich direkt die Augen rollen. Wie er jeden einzelnen Buchstaben nörgelig ausformuliert „L“, „Ü“, „C“, „K“, „EEEE!“

Trotzdem habe ich mir vorgenommen, meine Studie ein bisschen weiter auszudehnen. Der erste Selbsttest hat ergeben, dass wirklich eine Masse an Brandenburger*innen jeden Tag geduldig von A nach B mit dem Zug zuppelt. Ob es nun Berufspendler*innen oder Schüler*innen bzw. Student*innen sind; alles scheint dabei zu sein und für mehr Vielfalt – selbst in Berlin – zu sorgen. Die kann ja nie schaden. Ich jedenfalls werde weiterhin öfter mal die Augen auf der Fahrt schließen und die Gesprächsfetzen der Leute wie einen inspirierenden TED-Talk oder auch mal eine schockierende Nachmittagstalkshow auf mich einwirken lassen. Die Pendlerbahn ist unser Newsticker, eine Meinungsbildungsmaschine, ein Gesellschaftsbarometer sowie auch eine Quatsch-Inspiration und ja, auf jeden Fall meine Art der täglichen Weiterbildung.

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