Das neue Buch von Riot Grrrl Carrie Brownstein sollten alle lesen, die Hunger aufs Leben haben

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Wer die TV-Serie Portlandia schaut oder sich schon mal über Pussy Riot hinaus mit der Riot-Grrrl-Bewerbung der 90er Jahre beschäftigt hat, der kommt um den Namen Carrie Brownstein nicht herum. Die Frontfrau von Sleater-Kinney kennt man als toughe Frau, die schon früh ihre Stimme zugunsten feministischer Themen erhob. Jetzt hat sie mit "Modern Girl" ihre Autobiografie veröffentlicht, die nicht nur untrennbar mit der Bandgeschichte von Sleater-Kinney, sondern auch mit ihrer nicht immer leichten Jugend verbunden ist. Es ist ein Buch über das Anderssein, dem Hunger nach Anerkennung und der Suche nach einem positiven Gefühl der Körperlichkeit, das ihre Mutter nie verspürte. Wir stellen euch ein Ausschnitt aus dem Buch vor.

Aus dem Buch: "Modern Girl"

Ich hörte den Ausdruck »anorektisch« zum ersten Mal auf dem Rücksitz eines Wagens, auf dem Heimweg vom Kino. Es war der Sommer vor der siebten Klasse. Im weinroten Fond eines Chevy Blazer drehten wir uns alle nach einer Joggerin um, deren sehnige und kantige Gestalt ohne jede Kurve, mit hervorstehendem Brustkorb und Schlüsselbeinen wie eine Art wandelndes Körperschaubild aussah, nur umgestülpt. Die Mutter meiner Freundin am Steuer des Wagens sagte das Wort, das wir alle nicht kannten. Es beschrieb, was wir gerade gesehen hatten: ein Skelett in Nike-Turnschuhen.

Das Wort »anorektisch« kam mir vor wie ein Preis, den jemand anders in einer Verlosung für mich gezogen hatte; unerwartet, ja, aber ich würde schon eine Verwendung dafür finden. Und ich fand sie. Beim Abendessen ließ ich es ins Gespräch einfließen. Ich integrierte es in die Texte aktueller Hits und sang sie, während meine Mutter langsam ihr Essen auf dem Teller hin und her schob und kaum je die Gabel zum Mund hob, jeder Happen war ein lahmendes Pferd auf der Rennbahn, das vor der Ziellinie schlapp machte. Ich stichelte und rieb meiner Mutter das Wort unter die Nase, als wäre Anorexie etwas, was sie sich vielleicht wünschen könnte, nicht etwas, das sie schon hatte.

Meine Mutter war zart und hellhäutig, mit einer schmalen, knochigen Nase und glattem, dunklem Haar. Sie hatte dunkelbraune Augen, und in meiner Erinnerung blinzelt sie nie, als würde sie ununterbrochen halb entsetzt und halb traurig auf irgendetwas schauen. Sie hatte ein warmes, aber angespanntes und zögerliches Lächeln. Aus den Jahren vor ihrer Krankheit habe ich nicht ihren Körper anders in Erinnerung, obwohl er ganz eindeutig anders war – die Wangen waren voller und rosiger, das Haar glänzender, Brüste und Bauch weicher –, sondern vielmehr ihr Wesen. Man konnte sie wahrnehmen: Sie war im Auto und in der Küche, drehte sich Lockenwickler ins Haar und bummelte durch Klamottenläden, unterhielt sich mit Freundinnen, half mir mit den Hausaufgaben, kam zu den Schultheateraufführungen, ging, redete, saß, aß, war da und existierte.

Vielleicht hoffte sie, es wäre einfacher zu verschwinden, wenn sie immer weniger würde.

Ein Foto, das ein paar Jahre später in unserem letzten gemeinsamen Familienurlaub entstand, zeigt meine Mutter am Strand auf Hawaii. Im Bikini mit einem knallroten Sonnenbrand, als wäre sie in Kirschlimonade getaucht worden, und weißen Eiterbeulen, die sich seit Tagen auf ihrem Brustbein, ihren Knochen bildeten. Dünnes, sprödes Haar – es fiel schon seit einer Weile aus. Tiefe Augenhöhlen, hohle Wangen. Halb zerfiel sie, halb wurde sie zum Fossil. Vielleicht hoffte sie, es wäre einfacher zu verschwinden, wenn sie immer weniger würde.

Als wir meine Mutter zum ersten Mal im Krankenhaus besuchten, warnte sie uns nicht etwa vor ihrem Zustand, sondern davor, dass einige ihrer Mitpatienten in Secondhandläden einkauften; wir sollten sie nicht verurteilen. Ihr nach oben beweglicher Sinn für Mittelklasse-Schicklichkeit war also noch intakt, ungeachtet der Tatsache, dass ihre eigenen Kleider an ihr hingen wie an einem Drahtbügel und fast herunterrutschten, als suchten sie eine andere Bleibe. Sie war so besorgt und darauf konzentriert, wie wir wohl mit den sozialen und Lifestyle-Unterschieden auf der Station zurechtkommen würden, dass sie zu erwähnen vergaß, dass ihre Zimmernachbarin genau in meinem Alter war.

Breanna war ein Grufti, eine coole Gothic-Braut mit schwarzem Haar, schnurgeradem Pony und einem Faible für Eyeliner. Sie war exakt der Typ Mädchen, mit dem ich hätte befreundet sein können oder der ich selbst sein wollte, aber jetzt war Breanna die Freundin und Vertraute meiner Mom. Ich hatte zwar mit den Eltern meiner Freundinnen über die Krankheit meiner Mutter geredet, aber es war mir nie in den Sinn gekommen, mit meiner Mutter selbst darüber zu reden. Und jetzt hatte sie einen Ersatz für mich gefunden. Breanna konnte genau das mit meiner Mutter teilen und nachempfinden, was ich nie verstehen konnte: ihre Krankheit.

Später, nachdem sie beide entlassen waren, trafen sie sich oft und sahen sich zusammen Filme an, Erwachsenensachen, wie die Verfilmung von Marilynne Robinsons Haus ohne Halt, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich fühlte mich angeberisch und unreif, dabei war ich erst vierzehn. Außerdem wollte ich keine Freundin, ich wollte eine Mom.

Ich wollte keine Freundin, ich wollte eine Mom.

Ich war wirklich oft in Krankenhäusern zu Besuch, und wenn ich dabei eines gelernt habe, dann dass man als Besucher vor allem gesund und munter wirken muss: im Hopserlauf durch die Gänge rennen, laut (schallend laut!) lachen, essen wie ein Scheunendrescher und ein Abbild eines fitten, sportlichen Menschen sein. Sonst sah einen vielleicht ein Arzt, eine Schwester oder ein Psychiater an und entschied, dass man dableiben musste. Vielleicht machten Verletzlichkeit, Schmerz und Angst auch empfänglich für Krankheiten – man ging kerngesund hinein und kam entkräftet wieder raus, wenn überhaupt. Ein Besucher darf keine Schwäche zeigen. Meine Schwester und ich spielten also im Gemeinschaftsraum mit gehörigem Wetteifer Tischtennis, damit es jeder sehen und hören konnte. Seht. Uns. An. Absolut. Alles. In. Ordnung. Es war fast so, als wären wir auf ein spontanes Turnier vorbeigekommen, nur dass im Krankenhaus zufällig nur Kranke waren.

"Modern Girl" erscheint am 8.10.2016 bei Benevento.

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